Null-Null-Siebzig: Agent an Bord: Kriminalroman (German Edition)
Anfangszeremonie übernommen, dann an ihn übergeben und nur noch beim Austeilen der Hostien geholfen. Auch er war zufrieden.«
Joseph Sutcliffe sah James an. Das Selbstbewusstsein und die Aura des katholischen Priesters waren verschwunden. Scham und trotziger Stolz rangen um Vorherrschaft in einem Mann, der sich seinen Lebenstraum mit einer Lüge erfüllt hatte. »Ich habe immer befürchtet, dass ich eines Tages auffliege«, sagte er, während er den Kragen lockerte. »Aber trotzdem, ein paar Mal, ich weiß, das klingt anmaßend, Mr Gerald, aber ein paar Mal sind Passagiere zu mir gekommen und haben sich bedankt und gesagt, dass ich ihnen sehr geholfen hätte. Für diese Momente würde ich es wieder tun.« Er hielt inne, dann lächelte er verlegen. »Nein, wo wir schon bei der Wahrheit sind, das ist nicht der Hauptgrund. Der Hauptgrund ist, dass ich mich an das alles hier gewöhnt habe.« Er machte eine weit ausholende Armbewegung. »Das Schiff ist mein Zuhause geworden. Der Luxus, das gute Essen, das Gefühl, jeden Tag woanders aufzuwachen, das Schaukeln, mein Morgenkaffee in der Observation Lounge, die vertrauten Kollegen.« Er sah James ruhig in die Augen. »Ich habe es verdient, bestraft zu werden. Aber, Mr Gerald, wäre es eventuell möglich, dass Sie den Kapitän überreden, die Angelegenheit diskret zu behandeln? Die meisten Kollegen kennen mich schon lange, und es würde mir viel bedeuten, wenn ich mich als der von ihnen verabschieden könnte, als der ich an Bord gekommen bin.« Er packte James am Arm. »Könnten Sie das mit Ihrem Gewissen vereinbaren?«
James stellte seine Tasse ab. »Es ist schlimm im Alter«, sagte er langsam. »Mein Kurzzeitgedächtnis ist eine Katastrophe. Haben Sie das auch manchmal, dass Sie etwas tun wollen und dann plötzlich vollkommen vergessen, was es war? Dass Sie vor dem Kühlschrank oder im Keller stehen und nicht mehr wissen, warum? Sogar mitten im Gespräch verliere ich manchmal den Faden. Jetzt zum Beispiel. Es ist mir unangenehm, aber ich habe keine Ahnung mehr, worüber wir uns in den letzten Minuten unterhalten haben oder was ich gerade tun wollte, Pfarrer Sutcliffe.«
Joseph Sutcliffe sah James an, den Kopf zur Seite geneigt wie ein Hund, der etwas zu verstehen versucht. »Wir hatten ...«, begann er, doch James brachte ihn mit einem schnellen Blick und einem angedeuteten Kopfschütteln zum Schweigen. Im Gesicht des Geistlichen spiegelten sich zunächst Ungläubigkeit, dann allmähliche Erkenntnis und schließlich grenzenlose Erleichterung.
James schlug sich an die Stirn. »Ach, jetzt weiß ich wieder, was ich gerade tun wollte. Erlauben Sie mir einen kurzen Rollentausch, Pfarrer Sutcliffe.« Er erhob sich mit feierlicher Miene und legte Sutcliffe, der verdutzt zu ihm hochsah, seine rechte Hand auf die Stirn, wie um ihn zu segnen. Dann grinste James. »Schon seit unserer ersten Begegnung wollte ich wissen, wie sich das anfühlt!«
Epilog
Sie standen auf dem Balkon, die Sonne war schon lange untergegangen. Sheila zog ihre Stola enger um den Körper. »Morgen laufen wir in Marseille ein, und es ist, als wäre nichts passiert.«
»Freuen Sie sich auf zu Hause?«, fragte James.
»In erster Linie bin ich froh, wenn ich wieder festen Boden unter den Füßen habe.«
»Ja, es geht doch nichts über das Kopfsteinpflaster unserer guten alten New End Lane«, bemerkte er. »Mittwoch gibt es wieder Stew im Duke of Hamilton. Dazu ein Ale und in der ›Ham & High‹ blättern, was will man mehr.«
»Ich werde noch einige Zeit brauchen, bis ich das, was passiert ist, für mich sortiert habe«, sagte sie nachdenklich. »Vor allem, was das Verhältnis zu meiner Mutter betrifft.«
»Seien Sie nicht zu streng mit ihr. Vielleicht ist der neunzigste Geburtstag einfach so ein Krisendatum, an dem man die biologische Uhr besonders laut ticken hört.« James schlug einen scherzhaften Ton an. »Wie der dreißigste und vierzigste Geburtstag für Frauen. Wehe, wenn sie mit dreißig keinen Mann und mit vierzig kein Kind haben.«
»Wenn wir schon bei Klischees sind«, konterte Sheila, »dürfen Sie nicht den fünfzigsten und sechzigsten Geburtstag als Krisendatum der Männer vergessen. Wenn das halbeJahrhundert voll ist und die Zähne lang werden, kaufen sie sich Motorräder, Gelände- oder Sportwagen und treten hektisch eine Zeitreise zurück in die Jugend an. Und mit der Sechzig kommt als letztes Aufbäumen die junge Geliebte.«
James schwieg und lehnte sich neben Sheila an die Reling.
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