Null-Null-Siebzig: Agent an Bord: Kriminalroman (German Edition)
liebenden Mutter erwartet. In diesem Moment wurde mir klar: Diese Frau hat sich perfekt im Griff. Das, was Ivy uns präsentiert hat – die liebende Ehefrau und Mutter, die immer bereit ist, zurückzustecken –, hat nichts mit dem zu tun, was sie wirklich denkt oder fühlt, sondern nur mit dem, was andere Menschen über sie denken sollen.«
»Nun ja, ist das nicht bei uns allen mehr oder weniger der Fall?«, wandte der Geistliche ein.
James unterdrückte ein Lächeln und griff zur Kaffeetasse. »Aber manche Menschen sind wahre Meister darin. Und dann klingeln bei mir die Alarmglocken. Außerdem sorgte das Foto noch für ein weiteres Aha-Erlebnis. Als Mr Chandan es ansah, veränderte sich sein Gesichtsausdruck für einen kurzen, unbewussten Augenblick völlig. Sein Blick wurde zärtlich, und er lächelte wie jemand, der einen geliebten Menschen sieht. In dem Moment dachte ich noch, ich hätte mich möglicherweise doch getäuscht, was die Beziehung von Mr Chandan und Jamie anging. Vielleicht, dachte ich, hat Mr Chandan diese kleine Nervensäge doch irgendwie ins Herz geschlossen. Doch als mir dann direkt danach, in der Kabine von Larbi Lachoubi, klar wurde, dass Chandan es auf Jeremy abgesehen hatte, ahnte ich auch plötzlich, wem sein Lächeln gegolten hatte.«
Der Pfarrer nahm einen Schluck Kaffee. »Aber Sie hatten noch keine Beweise.«
James nickte. »Ja, Sie haben recht. Dass Mr Chandan sich nicht wie wir darüber freute, dass die vermeintlichen Opfer des ominösen Serienkillers putzmunter waren, und ihm die Nerven durchgingen, war für sich genommen kein Beweis für seine Schuld. Deshalb fragte ich ihn ganz direkt, ob er es für möglich hielte, dass Jeremy der Täter ist. Damit warf ich ihm einen Rettungsring zu, und er hat ihn gleich angenommen. Wenn Jeremy noch lebte, das war mir nun klar, würde Mr Chandan ihn jetzt nicht nur sein Testament, sondern auch einen Abschiedsbrief schreiben lassen, in dem er selbst die Taten gestand.« James rieb sich über die Augen. »Wissen Sie, was ich mir vorwerfe? Dassich nicht gleich stutzig geworden bin, dass Mr Chandan, als Sheila und ich an seine Kabine klopften, eine chinesische Oper hörte. Dieses laute Geschepper. Es war so offensichtlich.«
Joseph Sutcliffe nickte nachdenklich. »Es ist ja gut gegangen. Sie sind ja noch rechtzeitig gekommen, um Mr Watts zu retten. Aber sagen Sie, was hätten Sie eigentlich gemacht, wenn Ivy Watts nicht mit dem Messer auf ihren Komplizen losgegangen wäre? Es wäre ihr nichts nachzuweisen gewesen, oder?«
James zuckte die Schultern. »Stimmt. Ich habe etwas nachgeholfen, indem ich vorgab, dass nicht Jamie, sondern Richard zum Haupterben eingesetzt werden sollte. Das musste Ivy als Verrat auffassen. Sie wird in diesem Augenblick gedacht haben, dass Mr Chandan gemeinsame Sache mit Richard gemacht hat.«
»Sie haben also gelogen!«
James zuckte mit den Schultern. »Manchmal bringt nur eine Lüge die Wahrheit hervor, und ein kleiner, gemeiner Sprengsatz an einer empfindlichen Stelle bringt ein morsches Gebäude zum Einsturz.«
Sutcliffe seufzte. »Diese ganze Sippe um Mr Watts hat unser schönes Schiff zu einem Irrgarten der Täuschungen und Intrigen gemacht.«
James lächelte. »Sie übertreiben. Aber trotzdem, nach dieser Reise weiß ich die Überschaubarkeit meines Lebens in Hampstead wieder sehr zu schätzen.«
Der Pfarrer nickte versonnen. »Apropos Täuschung, wenn Sie durchschaut haben, dass Ivy uns allen etwas vorgespielt hat, warum haben Sie das nicht auch bei Judy Kappel und Eden Philpotts gemerkt? Die beiden haben eineeinstudierte Rolle gespielt, und trotzdem haben Sie keinen Verdacht geschöpft.«
»Touché«, lächelte James. »Ja, ich gebe zu, bei Miss Kappel haben keinerlei Alarmglocken geläutet. Mrs Humphrey würde jetzt behaupten, das liegt daran, dass ich hübschen Frauen nichts Böses zutraue. Aber das ist natürlich Unsinn, es lag vielmehr daran, dass Judy Kappel sich gar nicht groß verstellen musste. Sie war ja wirklich Mrs Barnes’ Sekretärin. Sie hat die Reise ausgelassen und fröhlich genossen und sich einfach so gegeben, wie sie war. Sie musste nur eines tun: zu einem verabredeten Zeitpunkt die Kabine auf Deck 3 aufsuchen und sich bis zur Zaubershow nicht mehr blicken lassen.« James sah versonnen aufs Meer. »Jeremy und Phyllis haben das sehr schlau eingefädelt. Sie hätten gute Agenten abgegeben. Beim SIS hat man immer darauf geachtet, dass die falschen Identitäten eines Agenten möglichst
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