Null-Null-Siebzig: Agent an Bord: Kriminalroman (German Edition)
ließ den Lichtkegel durch das Zimmer wandern. Als hätte man sie k. o. geschlagen, lag Sheila quer über dem Bett, mit dem Gesicht nach unten und komplett angezogen bis auf einen Schuh, der ihr vom Fuß geglitten war. Mithilfe eines kleinen Hakens, den er aus seiner Uhr klappte, entriegelte James die Balkontür, trat ein und legte die Taschenlampe auf den Teppich, sodass ihr Lichtkegel den Boden beleuchtete. Er trat ans Bett, zog Sheila den zweiten Schuh aus, brachte sie in eine stabile Seitenlage und deckte sie zu. Dann beugte er sich hinab, prüfte ihren Atem und fühlte den Puls an der Halsschlagader. Er war ruhig und gleichmäßig. Dabei strich ihm wieder dieser Duft in die Nase, der ihm zu Beginn des Abends schon an ihr aufgefallen und ihm seltsam vertraut war, den er aber nicht einordnen konnte. Er schnupperte an ihren Haaren. Normalerweise hatte er ein ausgezeichnetes Geruchsgedächtnis, Parfüms waren für ihn ebenso leicht einem Menschen zuzuordnen wie Namen, doch diesmal versagte es. Er atmete tief ein, aber alles, was er wusste, war, dass er diesen Duft vor langerZeit sehr gern gemocht hatte. James überlegte, ob er sich in Sheilas Badezimmer nach ihrem Parfüm umsehen sollte, doch plötzlich wurde sie unruhig und ruderte mit einem Arm Richtung Bettrand, wo, wie James vermutete, bei ihr zu Hause die Nachttischlampe stand. »Charlie?«, murmelte sie mit geschlossenen Augen. James verharrte regungslos. Als sie wieder fest schlief, zog er ihr die Decke bis an die Schultern, dann schlich er zur Balkontür und schloss sie von innen, nahm die am Boden liegende Taschenlampe wieder an sich und verließ Sheilas Kabine durch die Tür.
Später lag er im Bett seiner viel zu warmen Kabine und konnte nicht einschlafen. Schließlich stand er auf, öffnete die Balkontüren weit, genoss die kühle Brise, die hineinströmte. Und während er auf das dunkle Meer und den sternenübersäten Nachthimmel blickte, wurde ihm langsam klar, warum er immer wieder daran denken musste, dass Sheila im Halbschlaf »Charlie« gemurmelt hatte. Charles Humphrey war schon seit zweieinhalb Jahren tot, aber in ihren Träumen immer noch präsent.
Kapitel 14
Sheila kippte ihren dritten Espresso hinunter. »Also, das war das letzte Mal, dass ich mir von Ihnen einen Schlaftrunk habe aufschwatzen lassen.«
»Gestern wollten Sie noch das Rezept haben.«
»Ich weiß nicht mal mehr, wie ich ins Bett gekommen bin. Waren da etwa K.-o.-Tropfen drin?«
»Da kommt Ihre Mutter«, sagte James und wies zum Eingang des Restaurants. In diesem Moment rammte Phyllis mit ihrem elektrischen Rollstuhl einen kleinen Besteckwagen, der im Durchgang zum Buffet abgestellt war und jetzt mit einem lauten Klirren umkippte. Phyllis beachtete den Kollateralschaden nicht weiter und steuerte auf ihren Tisch zu, während Jeremy, der ihr folgte, mit ungehaltener Miene einen Kellner herbeiwinkte.
»Von Eden keine Spur«, stellte Sheila fest. »Die nächtliche Suchaktion scheint ebenso wenig Erfolg gehabt zu haben wie unsere Suche im Internet.«
James räumte einen Stuhl beiseite, damit Phyllis an den Tisch heranfahren konnte.
»Ich habe kein Auge zugetan«, sagte Phyllis. Sie griff sich ans Herz. »Ich spüre, dass etwas Schreckliches passiert ist. Es gibt da eine tiefe Verbindung zwischen Eden und mir, eine ganz besondere Nähe. Aber sie wird schwächer,er entfernt sich immer weiter von mir, und ich kann nichts dagegen tun. Mit jedem Atemzug spüre ich die Leere in mir wachsen, es zerreißt mir das Herz. Diese Ungewissheit, was passiert ist, ich halte das bald nicht mehr aus.«
Jeremy legte ihr die Hand auf den Unterarm. »Nun rege dich nicht schon wieder auf. Beruhige dich. Es nützt jetzt nichts, hysterisch zu werden. Nur schwache Menschen sind hysterisch. Du bist nicht schwach.«
Sheila reichte ihr den Brotkorb. »Komm, iss erst einmal etwas, Mutter.«
Phyllis verzog das Gesicht. »Ich kann jetzt nicht ans Essen denken.«
»Aber du musst bei Kräften bleiben. Für Eden. Essen hält Leib und Seele zusammen.«
Phyllis seufzte, nahm einen Toast und legte ihn auf ihren Teller. Sheila zog den Teller zu sich, butterte ihn, verteilte großzügig Marmelade darauf, schnitt ihn in mundgerechte Happen und schob ihn zurück. »So«, sagte sie und reichte ihrer Mutter eine Gabel, »jetzt schmeckt es besser.« Phyllis griff mit Leidensmiene nach der Gabel, spießte einen Happen auf und kaute gequält, ehe sie ihn hinunterwürgte.
»Ein wenig Rührei, Mutter?«
Phyllis
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