Null-Null-Siebzig: Agent an Bord: Kriminalroman (German Edition)
wegstecken können und denen am nächsten Morgen beim Rasieren ein vitales Lächeln aus dem Spiegel entgegenstrahlt. Für ihn selbst waren solche Nächte früher ebenfalls kein Thema gewesen und Energie nichts, worauf er einen Gedanken verschwendet hätte, aber seit dem letzten Winter war das anders. Mit einer schweren Bronchitis war er ins Krankenhaus gekommen und hatte zum ersten Mal in seinem Leben die Erfahrung gemacht, dass sein Körper nicht mehr der starke Verbündete war, auf den er sich jederzeit verlassen konnte. Stattdessen hatte der sich in einen Schwächling verwandelt, an den er sich gekettet fühlte wie an einen Ertrinkenden, der drohte, ihn mit in die Tiefe zu ziehen. Nur dank seiner zähen Entschlossenheit hatte James es geschafft, wieder an Land zu kommen. Doch er war sich nicht sicher, ob Gesundheit fürihn je wieder so vernachlässigenswert selbstverständlich sein würde wie anscheinend für Jeremy.
»Haben Sie etwas Neues?«, fragte Jeremy.
Kapitän Sullivan schüttelte den Kopf. »Nein, Mr Watts, wir haben alle Schiffe, die unsere Route kreuzen oder sich im näheren Umkreis befinden, angefunkt und uns auch bei den Behörden an Land erkundigt. Nirgendwo ist jemand an Land gespült worden, und es gibt auch keinen Körper, der auf dem Wasser treibend geborgen wurde.«
Entsetzt hielt sich Phyllis beide Hände vor den Mund. Sheila legte ihr die Hand auf die Schulter. »Das sind doch gute Nachrichten, Mutter. Er lebt!«
James hielt es für besser, Sheila nicht auf die Unlogik ihrer Aussage hinzuweisen. Die Information, dass man seinen Körper nicht gefunden hatte, bedeutete natürlich mitnichten, dass Eden noch lebte. Sie sagte nichts weiter aus als ebendas: Man hatte ihn nicht gefunden. Genauso gut könnte er, tot oder lebendig, noch an Bord sein oder unbemerkt von irgendwelchen Schiffen im Meer schwimmen. Dass ihn seit gestern niemand mehr gesehen hatte, war nichts Neues, nur war der Kreis derer, die ihn nicht gesehen hatten, ein wenig größer geworden.
Jeremy wandte sich an James. »Kann ich Sie einen Augenblick unter vier Augen sprechen?« Er erwartete keine Antwort, sondern erhob sich bereits. »Lassen Sie uns nach unten in die Raucher-Lounge gehen.« James war leicht verärgert und griff zu seiner Tasse, um wenigstens den letzten Schluck Kaffee zu trinken, dann fing er den drängenden Blick von Sheila auf.
»Nun gehen Sie schon, James! Wir sehen uns nachher.«
Im Pub angekommen, öffnete Jeremy den Humidor,wählte zwei Zigarren und ging weiter voran in den Raucherraum, in dem sich nur wenige Gäste aufhielten. Sie nahmen wieder in der Nische Platz, in der sie tags zuvor gesessen hatten. Jeremy bot James eine der Zigarren an. Doch James winkte ab. »Danke, für mich nicht.«
Diese Sitzung würden sie nicht in genüsslichem Schweigen verbringen. Jeremy zuckte die Schultern, legte James’ Zigarre auf dem Tisch ab und zündete seine an.
»Sie – halten also – Eden Philpotts – für – einen – Heiratsschwindler«, stellte er fest, während er ein paarmal kurz paffte, bis die Zigarre richtig brannte.
»Er ist nicht ganz echt«, bestätigte James. »Ich sollte mich sehr täuschen, wenn es anders wäre.«
»Seit wann haben Sie diesen Verdacht?«, fragte Jeremy interessiert.
»Bereits seit dem Dinner am ersten Abend.«
»Und wieso?«
»Nun, das ist offensichtlich, nicht wahr? Der Altersunterschied.«
Jeremy lächelte. »Stimmt. Seien wir ehrlich, aus welchem Grund heiratet ein gesunder Mann eine bald neunzig Jahre alte reiche Dame? Phyllis ist eine außergewöhnliche Frau, aber machen wir uns nichts vor, sie sitzt im Rollstuhl. Ehrlich gesagt, als Phyllis mir vor ein paar Wochen von Eden erzählte, war ich auch gleich misstrauisch. Ich habe sie gefragt, wie sie ihn kennengelernt hat und so weiter, aber es war nicht viel aus ihr herauszubekommen. Sie haben ja miterlebt, wie heftig sie reagiert hat. Die geringste Andeutung, Eden könnte es auf ihr Geld abgesehen haben, reicht, und sie geht in die Luft. Dabei, schon allein dieser abstruse Name. Eden Philpotts.«
»Obwohl«, warf James ein, »gerade dieser Name macht mich dann doch wieder stutzig, nicht wahr. Jemand, der es auf Lug und Betrug abgesehen hat, verwendet gewöhnlich einen Allerweltsnamen wie Miller oder Jones.« James’ Handy vibrierte in der Tasche seines Jacketts. Er zog es heraus und las die Nachricht vom Canmore Golfclub, die von seinem E-Mail-Account aus weitergeleitet worden war. »Das ist ja interessant«, sagte
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