Null-Null-Siebzig: Agent an Bord: Kriminalroman (German Edition)
an. Diese Frau war ein Phänomen. Sie schien plötzlich aufgekratzt wie ein Bluthund, wenn zur Jagd geblasen wird. Diese Jagd musste sich für sie in einer Art Parallelwelt abspielen, die mit der Wirklichkeit nicht das Geringste zu tun hatte. Sonst hätte Phyllis längst klar sein müssen, dass ihr Ehemann und Judy Kappel allem Anschein nach tot waren. Aber vielleicht, dachte James, hat Sheila recht, und Phyllis lebt tatsächlich in einer sehr speziellen Welt. Einer Welt, in der andere Menschen wie Satelliten um Phyllis kreisten und beim Eintritt in ihre Atmosphäre ganz einfach verglühten. James wandte sich ab, ging ein paar Schritte zur Seite und zog den Hai aus seiner Jacketttasche. Er ließ das Maul mit den weißen Zähnen auf und zu schnappen.
»Ein Sixpence für Ihre Gedanken«, flüsterte Sheila ihm zu, wobei sie ihre Hand in das geöffnete Maul des Hais hielt. Er ließ das Maul zuschnappen. »Tut das weh?«
Sheila lächelte. »Nein.«
»Warum nicht?«
Sheila sah ihn lächelnd an. »Weil es ein lieber Hai ist?«, sagte sie mit Kinderstimme.
»Nein«, sagte er langsam, »ein Hai ist nicht lieb. Es gibt auch keinen ritterlichen Hai, wie in dem alten Seemannslied, der Frauen und Kinder verschont. Ein Hai hat keine Wahl, er tötet. Nein, dieser Hai, der Ihre Hand umfängt, tut Ihnen deshalb nicht weh, weil er nur eine Handpuppe ist.«
»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte Sheila.
James sah sie an. »Ich beginne zu ahnen, was hier los sein könnte. Aber es ist so unglaublich, dass ich mich noch weigere, es zu glauben. Doch wenn ich recht habe, ist Bertram hier nicht der einzige Hai. Wir sind umzingelt von ihnen.«
James ließ Sheilas Hand los, als die Tür aufging und ein großer, gut aussehender Nordafrikaner eintrat. »Und das da ist einer von ihnen«, sagte James.
Der Schiffsangestellte nickte Kapitän Sullivan zu: »Kapitän, Sie haben nach mir geschickt?« Die Stimme des Mannes war tief und klang selbstbewusst. Falls er nervös war, ließ er sich nichts anmerken. Der Kapitän verwies auf James, der auf Larbi Lachoubi zuging und die Hand zur Begrüßung ausstreckte. »Ich darf mich vorstellen. Gerald. James Gerald«, sagte er ernst. Der andere lächelte mit der geschulten Freundlichkeit des Servicepersonals zurück. »Larbi Lachoubi.« Dann sah er James abwartend an.
»Wir haben uns schon einmal gesehen«, sagte James.
»Gut möglich. Ich bediene auf Deck 10. Verzeihen Sie mir, wenn ich Sie nicht wiedererkenne, aber es ist nach so kurzer Zeit auf See unmöglich, sich alle Passagiere einzuprägen.«
»Es war nicht auf See, sondern an Land«, sagte James,Larbi Lachoubi in die Augen sehend. »Ich habe Sie neulich im Hafen von Nizza gesehen.«
»Das ist unmöglich, ich bin in Nizza nicht an Land gegangen.«
»Sie waren in Begleitung einer Frau. Sie heißt Judy Kappel.«
»Vielleicht verwechseln Sie mich, Mr Gerald. Diesen Namen habe ich noch nie gehört.« Larbi Lachoubis breites Lächeln ließ blendend weiße Zähne sehen, in seinen Augen blitzte gutmütiger Spott auf. »Aber machen Sie sich keine Gedanken, die meisten Passagiere haben ihre liebe Not, unsereins auseinanderzuhalten. Es mag an den Uniformen oder an der Hautfarbe liegen.«
James wusste, dass Lachoubi recht hatte, auch wenn es für eine Servicekraft reichlich unverschämt war, einen Passagier darauf hinzuweisen und ihm damit ziemlich unverblümt eine ignorante, wenn nicht gar rassistische Haltung vorzuwerfen. Bei einer polizeilichen Gegenüberstellung mussten die meisten Nordeuropäer passen, wenn es darum ging, einen Täter mit dunkler Hautfarbe zu identifizieren. Selbst wenn sich die Zeugen vorher noch so sicher gewesen waren. Mit der Wahrnehmung »dunkel« schien sich das durchschnittliche nordeuropäische Gehirn zufriedenzugeben. James musterte Larbi Lachoubi und fragte sich, ob er womöglich auch in diese Wahrnehmungsfalle getappt war. Doch sein Zweifel währte nicht lang. Die SIS-internen Schulungen zur Personenerkennung hatten ihn vor allem eines gelehrt: einen Blick für das Einzigartige einer Person zu entwickeln, unabhängig von Frisur, Haar-, Gesichts- und Augenfarbe, Brille und anderen manipulierbaren Details. Die Art, wie jemand sich bewegte, war zumBeispiel eines dieser Merkmale, die nur schwer veränderbar waren.
»Kann ich Ihnen sonst irgendwie behilflich sein?«, fragte Larbi Lachoubi.
James zog die Schultern hoch. »Nein, entschuldigen Sie bitte die Verwechslung.«
James sah dem Afrikaner nach, als er den Raum
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