Nullpunkt
Usuguk, das tätowierte Gesicht eine ausdruckslose Maske, und Phillips bildete den Abschluss. Er warf immer wieder nervöse Blicke hinter sich.
Sie bewegten sich an den Lagerräumen der D-Ebene vorbei, an Regalen voll veralteter Sensor-Arrays und anderer Instrumente, die im Strahl von Gonzalez’ Taschenlampe auftauchten und tiefe, seltsam lebendige Schatten warfen.
Die Stille und Dunkelheit zerrten mehr und mehr an Marshalls Nerven. Er hatte Kari und Conti eigentlich nicht zurücklassen wollen, doch die Aussicht, eine Waffe zu bauen, mit der sie die Kreatur vertreiben konnten, ließ das Risiko vertretbar erscheinen. Er verlangsamte seine Schritte und ließ sich ein wenig zurückfallen, bis er neben dem alten Schamanen ging. «Usuguk», begann er, um sich auf andere Gedanken zu bringen, «warum nennt ihr diesen Berg hier einen Ort des Bösen?»
Der Tuniq überlegte eine Weile, bevor er antwortete. «Es ist eine sehr, sehr alte Geschichte. Sie wurde von Vater zu Sohn weitergegeben, über viele Generationen hinweg, länger, als sich irgendjemand aus meinem Volk erinnern kann.»
«Ich würde sie gerne hören.»
Usuguk zögerte erneut, bevor er antwortete. «Mein Volk glaubt an zwei Arten von Göttern. Die Götter des Lichts und die Götter der Finsternis. Genau wie jedes Ding sein Gegenteil besitzt – für Glück gibt es Sorge, für den Tag die Nacht –, so bedurfte es beider Arten von Göttern, um die Welt zu erschaffen. Die Götter des Lichts sind die höchsten Götter. Sie sind zugleich die ältesten: die Götter der Weisheit und der Güte. Sie segnen unsere Jagd, sie füllen das Meer mit Fisch. Sie wachen über die natürliche Ordnung. Die Götter der Dunkelheit sind anders. Sie kontrollieren Krankheit und Tod und die menschlichen Leidenschaften. Sie hausen in den Albträumen. Mit der Zeit vergiftete sie ihr eigener Schleier aus Dunkelheit. Sie wurden neidisch auf die Götter des Lichts. Das Böse war ihr Werkzeug, ihre Quelle der Macht, und es verführte sie. Sie wurden selbst zu etwas Bösem.»
Sie bogen um eine Ecke im Gang und kamen an einer Reihe von Werkstätten vorbei.
«Die Götter der Finsternis versuchten die Götter des Lichts zu stürzen, ihre Taten in das Böse zu verkehren, das Land zu vergiften und die heilende Sonne zu verdunkeln. Als dies nicht gelang, versuchten sie, die Götter des Lichts zu bestechen und gegeneinander auszuspielen. Obwohl die Götter des Lichts gütig waren, versetzte sie dies in Zorn. Das war der Moment, in dem Anataq erwachte.»
«Anataq?»
«Der Schwindler-Gott. Er ist weder Licht noch Finsternis, sondern trachtet nach einem Gleichgewicht zwischen beidem. Er hatte gesehen, was die dunklen Götter getan hatten, und er wusste, dass sie eine Gefahr waren für die Ordnung der Natur. Also erbot er sich zu helfen. Er ging zu den Göttern der Finsternis und erzählte ihnen von einer geheimenHöhle der Tunit, einem Ort, sagte er, wo sie die fünfzig schönsten und makellosesten Frauen ihres Stammes versteckten. Ihre Schönheit, so erzählte er ihnen, sei von solch großer Seltenheit, dass sie nur zum Ansehen und Bewundern gemacht seien und nicht dafür, von Männern besessen zu werden. Die Höhle lag tief in einem Berg. Die Geschichte erweckte das lüsterne Interesse der dunklen Götter, und ihr Blut geriet in heiße Wallung.»
Sie folgten Gonzalez eine Treppe hinunter zur E-Ebene , der untersten im zentralen Abschnitt. Ihre Schritte hallten leise von den Metallstufen wider.
«Die Götter der Finsternis wollten von Anataq wissen, wo denn dieser Berg sei. Doch der Schwindler-Gott weigerte sich, es ihnen zu verraten, und sagte nur, er würde den Berg einmal im Jahr besuchen, an jedem Mittsommerabend, wenn die Bewacher der Frauen zur Reinigungszeremonie gegangen wären. In jenem Jahr ging er am Mittsommerabend zu dem hohlen Berg. Die Götter der Finsternis folgten ihm heimlich, genau wie er es geplant hatte. Sobald sie in der tiefsten Kaverne des Berges angekommen waren, goss Anataq flüssiges Feuer auf sie hinab und sperrte sie im Innern des Berges ein.»
«Lava», murmelte Marshall.
«Der Zorn der Götter der Finsternis war furchtbar. Sie kreischten und brüllten, und der Berg spie Feuer, wieder und wieder. Ihre Wut war so groß, dass der Himmel von Horizont zu Horizont aufriss und die Himmel bluteten. Sie tobten tausend Jahre lang, doch Anataq hatte sie zu gut eingesperrt, und zu guter Letzt wurden sie müde. Der Berg spie nicht länger Feuer. Der Himmel hörte auf zu
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