Nullpunkt

respektiert, sondern er besaß auch eine ganze Menge Einfluss.
    «Noch einmal!», rief Conti in abgehacktem, schwach italienischem Akzent. «Diesmal ein wenig mehr Begeisterung, wenn ich bitten darf. Vergessen Sie nicht:
Sie haben es geschafft!
Die Mission ist erfüllt. Ich will es in Ihren Gesichtern
sehen
und in Ihren Stimmen
hören
.»
    «Film ab», sagte der Mann mit der Handkamera.
    «Und –
Action!
», befahl Conti.
    Erneut brachen die versammelten Komparsen in Jubel aus. Sie sprangen in die Luft, juchzten und schrien und schlugen sich gegenseitig ausgelassen auf den Rücken. Marshall beobachtete sie verwirrt. Wieder einmal wurde ihm schmerzhaft bewusst, wie wenig er und seine Kollegen über das Projekt wussten.
    Kari Ekberg stand in der Nähe von Conti und verfolgte das Geschehen aufmerksam. Sie hatte in den letzten Tagen sehr viel zu tun gehabt, doch sie hatte jedes Mal höflich gelächelt, wenn sie Marshall begegnet war – im Gegensatz zur restlichen Crew, die in den Wissenschaftlern eindeutig ein Ärgernis sah, das sie tolerieren mussten, ob es ihnen passte oder nicht.
    Marshall ging zu Kari herüber. «Was ist passiert?», fragte er.
    «Es ist vorbei», antwortete sie. «Ein großer Erfolg.»
    «Es ist vorbei? Was?»
    «Nun, das ist die Filmszene, verstehen Sie? Es ist vorbei. Geschafft.»
    «Aber …», begann er. Dann dämmerte es ihm plötzlich: Conti filmte bereits die Reaktion der Mannschaft auf den erfolgreichen Abschluss des Projekts – was für ein Projekt auch immer das sein mochte. Es schien, als würde der Produzent alles filmen lassen, was er konnte, so schnell er konnte, ohne Rücksicht darauf, ob es real war oder gestellt. Es war nicht zu übersehen, dass die Zeit bei den Filmleuten nicht linear verlief. Und Marshall wurde bewusst, dass er noch eine Menge lernen musste über die Produktion von Dokumentationssendungen.
    Conti nickte, offenbar zufrieden mit seiner letzten Einstellung. Er drehte sich zu dem Mann mit der kleineren Kamera um. «Haben Sie die B-Rollen ?»
    Der Mann lächelte und zeigte den erhobenen Daumen. Conti sah von ihm zu Kari Ekberg hinüber und bemerkte Marshall, der bei ihr stand. «Sie sind Marshall, richtig? Der Ökologe?»
    «Paläoökologe, richtig.»
    Conti warf einen Blick auf sein Klemmbrett und hakte mit einem Stift in einer dick behandschuhten Hand etwas ab. «Gut. Das wäre das Nächste auf der Liste.» Er blickte erneut zu Marshall auf, sorgfältiger diesmal. Er musterte ihn von oben bis unten, als würde er eine Rinderhälfte begutachten. «Könnten Sie bitte den Rest Ihres Teams im Vorbereitungsraum versammeln und Schutzkleidung anziehen lassen? Fünfzehn Minuten, wenn Sie so nett wären. Sie alle dabeizuhaben erhöht zweifellos den Realismus der Einstellung.»
    «Was für eine Einstellung ist das?»
    «Wir steigen den Berg hinauf.»
    Marshall zögerte. «Ich rufe die anderen gerne zusammen. Aber ich denke, zuerst sollten Sie uns erklären, was Sie hier eigentlich dokumentieren. Sie haben sich bisher nicht dazu geäußert. Ich will nicht halsstarrig erscheinen oder so, aber ich denke, Sie haben uns alle lange genug im Dunkeln gelassen.»
    Conti holte geräuschvoll Luft. «Wir filmen, was wir können, bevor Ashleigh eintrifft», sagte er.
    «Das ist noch so etwas, das ich nicht verstehe», sagte Marshall. «Warum muss eine Moderatorin den ganzen Weg hierherauf kommen? Warum kann sie den Hintergrundkommentar nicht in New York sprechen, wenn der Film geschnitten wird?»
    «Weil es nicht nur um einen Hintergrundkommentar geht», erwiderte Conti. «Wir reden hier von Doku-Drama. Von einem
gewaltigen
Doku-Drama.»
    Marshall runzelte die Stirn. «Was hat ein Doku-Drama mit unserer Arbeit hier zu tun? Oder mit der Katze, die wir entdeckt haben?»
    Bei diesen Worten lächelte Conti schwach. «Es hat alles mit der Katze zu tun, Professor Marshall. Verstehen Sie, wir steigen den Berg hinauf, um die Katze aus dem Eis zu schneiden.»
    Marshall überlief ein ungläubiges Frösteln. «Haben Sie gesagt, Sie wollten
die Katze aus dem Eis schneiden
?»
    «In einem einzigen Block, ja. Für den Transport in unserem eigens präparierten Behälter. Er wird versiegelt. Dann wird das Eis unter kontrollierten Bedingungen geschmolzen.»
    Conti legte eine Kunstpause ein. «Wir schmelzen es live. Gleich hier – vor einem Publikum von schätzungsweise zehn Millionen Zuschauern.»

8
    Einen Augenblick lang fühlte sich Marshall zu benommen, um etwas darauf zu erwidern. Dann verschwand