Nullpunkt
war berüchtigt für seinen kommerziellen Sensationsjournalismus. Wolff hatte offensichtlich damit gerechnet, dass es zu dieser Konfrontation kommen würde. Das war der Grund, aus dem er den Vertrag mit sich herumtrug. Er musterte den Mann genauer. Selbst in einem Parka wirkte er dünn, beinahe ausgemergelt, mit kurzgeschnittenem Haar und ausdruckslosem Gesicht. Er erwiderte Marshalls Blick, und in seinen hellen Augen regte sich keinerlei Gefühl.
Marshall wandte sich zu Sully um. «Das haben Sie unterschrieben?»
Sully zuckte die Schultern. «Es war entweder die Unterschrift oder keine Expedition. Wie hätten wir ahnen können, dass es so weit kommt?»
Marshall antwortete nicht. Mit einem Mal fühlte er sich erschöpfter als je zuvor. Ohne ein weiteres Wort faltete er den Vertrag wieder zusammen und gab ihn Wolff zurück.
9
Eine Viertelstunde später machte sich eine große Gruppe durch das Gletschertal auf den Weg zur Höhle. Neben den Wissenschaftlern gehörten Conti mit seinem kleinen Gefolge von Assistenten, der Tontechniker, die beiden Kameraleute sowie Kari Ekberg zu der Gruppe. Ihnen folgte ein Dutzend zäh aussehender Arbeiter in Lederjacken und der Sno-Cat, der bis zum Rand mit Holzpaletten beladen worden war. Die Arbeiter gehörten nicht zum offiziellen Filmteam – sie waren Einheimische, eingeflogen aus Anchorage, um die schweren Arbeiten zu erledigen. Kari hatte bereits erklärt, dass es von großer Bedeutung war, die Live-Sequenzen möglichst schnell zu drehen, denn da der Produzent bereits vor Ort eingetroffen und die Starmoderatorin auf dem Weg war, schnellten die Kosten in die Höhe, und der Set sowie die Kulissen mussten so schnell hergerichtet werden wie nur irgend möglich.
Normalerweise dauerte der Marsch vom Lager zur Gletscherfront zwanzig Minuten – heute jedoch brauchten sie dreimal so lang. Ständig blieb Conti stehen, damit die Kameraleute Einstellungen vom Berg drehen konnten, vom Gletschertal und von der Filmcrew selbst. Einmal starrte er einfach zehn Minuten nachdenklich zum Gletscher hinauf. Eigenartigerweise ließ er später noch eine Reihe von Einstellungen von Kari Ekberg drehen – von allen Seiten, nur nicht von vorn.
«Wozu soll das gut sein?», fragte Marshall nach der fünften Szene.
Kari schlug ihre Kapuze zurück. «Ich bin das Double für Ashleigh.»
Marshall nickte. Ashleigh Davis, die Moderatorin, wurde erst in zwei Tagen erwartet, doch das hinderte Conti nicht daran, sie trotzdem zu filmen. «Ich nehme an, Sie hattenrecht, als Sie meinten, Zeit wäre alles bei einem Dreh wie diesem.»
«Ganz genau.» Sie sah ihn von der Seite an. «Hören Sie, es tut mir leid, was vorhin passiert ist. Ich wünschte, ich hätte Sie vorwarnen können, doch ich hatte strikte Order, den Mund zu halten. Wolff bestand darauf, es selbst zu tun.»
«Dann ist er also der Boss. Und ich Dummkopf dachte, es wäre Conti.»
«Emilio trägt die Verantwortung für die kreative Seite: die Dreharbeiten, die Beleuchtung, Regie, den endgültigen Schnitt. Aber der Sender bezahlt alles. Also hat der Sender das letzte Wort. Und hier oben, quasi am Ende der Welt,
ist
Wolff der Sender.»
Marshall blickte über die Schulter ins Tal hinunter. Wolff war nicht mitgekommen, doch er war immer noch zu sehen: Tief unten stand eine winzige, dürre, gespenstische Gestalt reglos vor der Einzäunung und beobachtete sie.
Marshall stieß einen Seufzer aus. «Ist das normal? Das ständige Anhalten, Umblicken, Filmen und wieder Filmen?»
«Nein, eigentlich nicht. Conti verbraucht das Dreifache der normalen Menge an Filmmaterial.»
«Warum?»
«Weil das hier seine ‹Mona Lisa› werden soll. Sein Meisterwerk. Er hat eine Menge dafür getan, um diesen Dreh zu bekommen.»
«Und warum trottet der Große Meister dann zu Fuß mit dem Rest des ungewaschenen Gefolges den Berg hinauf? Ich hätte gedacht, dass er im Sno-Cat fährt.»
«Er will ‹mit beiden Beinen auf dem Boden› gefilmt werden, wie wir es nennen. Das sieht besser aus im ‹Making-of›- Video, das später zum Zusatzmaterial der DVD gehören wird.»
Marshall schüttelte den Kopf in stillem Unglauben über den Zirkus, zu dem diese Veranstaltung eskaliert war.
Sie setzten sich wieder in Bewegung, und wie auf ein Stichwort hin kam Conti auf sie zu. «Gibt es etwas, das ich wissen sollte?», fragte er Marshall in seiner abgehackten Aussprache.
«Worüber?»
Der Produzent machte eine weit ausholende Handbewegung. «Alles. Den Ort, das Wetter, die
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