Nullpunkt
geschwiegen. Sie kannte Ashleigh lange genug, um zu wissen, wann es besser war, den Mund nicht aufzumachen.
«Bist du sicher, dass du in deinen Wohnwagen zurückwillst?», fragte Conti. «Ich könnte hier unten eine Unterkunft für dich fertig machen lassen.»
«Eine Unterkunft? Was denn, mit gemeinsamem Waschraum vielleicht? Und einer harten Armeepritsche? Emilio, ich kann nur hoffen, dass das ein Witz gewesen sein soll!» Mit diesen Worten wandte sie sich verächtlich ab.
«Aber …», setzte Conti zu einem Protest an.
«Wir sehen uns morgen früh. Und Emilio? Ich erwarte, dass bis dahin ein Helikopter bereitsteht.»
Als sie forschen Schrittes zur Tür marschierte, bemerkte sie aus den Augenwinkeln, wie sich jemand näherte. Es war der Mann, der ihren Wohnwagen auf seinem Sattelzug hergebrachthatte. Sie bedachte ihn mit einem flüchtigen Blick. Er sah nicht schlecht aus mit seinem gebräunten, schlanken Körper. Wie ein Surfer. Aber dieses abscheuliche pastellfarbene Hawaiihemd ließ sich geschmacklich wohl kaum noch unterbieten. Er hatte einen gewaltigen Kaugummi im Mund, den er bearbeitete wie ein Wiederkäuer.
«Ma’am.» Er lächelte sie an und nickte Brianna zu. «Wir wurden uns noch nicht offiziell vorgestellt.»
Ich wurde meinen Chauffeuren noch nie vorgestellt
, dachte sie stirnrunzelnd.
«Mein Name ist Carradine, für den Fall, dass Sie ihn noch nicht gehört haben. Ich bin auf dem Weg in mein Führerhaus, deswegen komme ich mit den Ladys mit – falls Sie nichts dagegen haben, heißt das.»
Ashleigh sah ihre Assistentin an, als wollte sie fragen, ob ihr denn überhaupt nichts erspart bliebe.
«Wissen Sie», sagte der Ice Road Trucker, während sie zur Treppe gingen, «ich hatte gehofft, mit Ihnen zu reden, Miss Davis. Als ich erfuhr, dass es Ihr Wohnwagen ist, den ich hier heraufschaffe, dass ich vielleicht Gelegenheit erhalte, mit jemandem in Ihrer Position zu reden … na ja, es war die Art von glücklichem Zufall, von der man hin und wieder mal liest. Wie Orson Welles bei seinem Treffen mit William Randolph Hearst.»
Ashleigh sah Carradine an. «William Randolph Hearst?»
«Hab ich da vielleicht was verwechselt? Na ja, wie dem auch sei, ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn ich Ihnen eine Minute von Ihrer Zeit nehme.»
Das hast du bereits
, dachte Ashleigh.
«Verstehen Sie, ich bin nicht nur ein einfacher Trucker. Die Saison ist ziemlich kurz, wissen Sie? Vier Monate … normalerweisebin ich so früh noch nicht hier oben, weil das Eis auf dem See noch nicht dick genug ist … deswegen habe ich mehr als genug Zeit, andere Dinge zu tun. Oh, es ist nicht so, als hätte ich ständig alle Hände voll zu tun … die Zeit vergeht langsam unten in Cape Coral, und es passiert nicht viel. Aber ich habe die Zeit gut genutzt.»
Er schien darauf zu warten, dass sie ihn fragte, wie er die Zeit denn genutzt hatte. Sie schwieg entschlossen, während sie die Treppe hinaufstieg.
«Ich bin Drehbuchautor», sagte Carradine.
Sie drehte sich zu ihm um. Ihre Überraschung war so groß, dass sie sie nicht verbergen konnte.
«Das heißt, ich habe
ein
Drehbuch geschrieben. Verstehen Sie, ich lasse beim Fahren Hörbücher laufen – das hilft, wach zu bleiben, und lenkt vom Eis ab –, und ich bin ganz verrückt nach den Stücken von William Shakespeare. Den Tragödien zumindest, heißt das, mit all dem Blut und den vielen Kämpfen. Mein Lieblingsstück ist
Macbeth
. Und darum geht es auch in meinem Drehbuch: meine Version von
Macbeth
. Allerdings ist mein
Macbeth
nicht die Geschichte eines Königs, sondern die Geschichte eines Ice Road Truckers.»
Ashleigh durchquerte hastig die Eingangshalle, während sie sich bemühte, ihre Distanz zu Carradine zu vergrößern. Carradine rannte fast, um nicht abgehängt zu werden. «Der König der Ice Road Trucker, verstehen Sie? Und da gibt es noch diesen anderen Trucker, der eifersüchtig ist auf unseren Helden und auf seinen Ruf unter den anderen. Und er ist auch auf sein Mädchen scharf. Also geht er hin und sabotiert die Route unseres Helden, zerstört das Eis, die Eisdecke … verstehen Sie, was ich meine?»
Sie passierten den Bereitschaftsraum und verließen das Gebäudedurch den Haupteingang. Augenblicklich peitschten Wind und Eis wie mit gigantischen Fäusten auf sie herab. Die Außenbeleuchtung vermochte das dichte Schneetreiben kaum zu durchdringen, und man sah die Hand vor Augen nicht. Ashleigh zögerte, als ihr einfiel, dass es ein Polarbär gewesen war,
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