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Nullpunkt

Nullpunkt

Titel: Nullpunkt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lincoln Child
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Reagenzgläsern hinweg ein Blatt Papier. «Hier, das ist das Strukturdiagramm von Eis-VII. Sehen Sie sich die Zelle an. Genügend Druck vorausgesetzt, kann diese Form von Eis bei Raumtemperatur überdauern,
ohne zu schmelzen

    Marshall stieß einen Pfiff aus. «So warm? Wir hätten diese Sorte Eis gestern im Tresor gebrauchen können.»
    «Das ist genau der Punkt», fuhr Faraday fort. «Ich habe vergangenen Monat einen Artikel in
Nature
gelesen, nach dem es theoretisch eine weitere Zustandsform von Eis geben könnte, Eis-XV, mit genau den
entgegengesetzten
Eigenschaften.»
    «Sie meinen …», Marshall zögerte. «Sie meinen, dieses Eis würde
unterhalb
des Gefrierpunkts schmelzen?»
    Faraday nickte.
    «Das entscheidende Wort dabei lautet ‹theoretisch›», bemerkte Chen.
    «Und die ungewöhnliche Kristallstruktur unseres geschmolzenen Eises – sie entspricht Eis-XV?»
    «Es gibt keinen Weg, das mit Sicherheit festzustellen», sagte Faraday. «Aber es wäre möglich.»
    Marshall drückte sich von dem Labortisch ab und begann auf und ab zu gehen. «Dann wäre es also möglich – rein hypothetisch –, dass das Eis von ganz alleine geschmolzen ist.»
    «Sie haben die Temperatur im Tresor über Nacht langsam erhöht», sagte Faraday. «Und in all der Aufregung wegen der verschwundenen Katze hat niemand daran gedacht, die Temperatur im Innern des Tresors zu kontrollieren. Sich zu überzeugen, ob sie tatsächlich
über dem Gefrierpunkt
lag.»
    «Das ist richtig.» Marshall blieb stehen. «Niemand hat esfür notwendig erachtet. Die Tür blieb weit offen, und alles rannte los, um nach dem Fossil zu suchen.»
    «Wodurch die Temperatur im Innern des Tresors rasch wieder auf die Umgebungstemperatur zurückkehren konnte», sagte Chen.
    «Also hat es möglicherweise überhaupt keinen Saboteur gegeben», sagte Marshall. «Der Auftauprozess lief wie vorgesehen.
Das Eis selbst
war der Übeltäter.»
    Faraday nickte.
    «Und wie kann sich dieses ungewöhnliche Eis gebildet haben?», fragte Marshall.
    «Genau das ist die Frage», sagte Chen.
    Für einige Sekunden senkte sich Stille über das Labor.
    «Das ist eine höchst interessante Hypothese», sagte Marshall schließlich. «Aber selbst wenn Sie recht haben, Wright – selbst wenn es keinen Dieb und keinen Saboteur gab, bleibt die Frage bestehen: Wer hat das Fossil aus dem Tresor entwendet?»
    Kaum hatte er die Frage formuliert, sah er auch schon, wie sich Faradays nervöser Gesichtsausdruck vertiefte. «Nein, sagen Sie nichts», kam er dem Biologen hastig zuvor. «Lassen Sie mich raten: Es hat sich selbst befreit.»
    «Sie haben meine Fotos vom Boden des Tresors gesehen. Das waren Spuren von etwas, das sich einen Weg von drinnen nach draußen geschaffen hat, nicht von draußen nach drinnen. Und es waren keine Sägespuren.»
    «Zugegeben. Sie sahen nicht nach Sägespuren aus. Aber sie haben auch nicht nach Klauen ausgesehen. Sie waren viel zu kräftig, um …» Marshall hielt unvermittelt inne. «Warten Sie. Es ist eine sehr schlaue Theorie, unterhalb des Gefrierpunkts schmelzendes Eis und alles. Aber es gibt ein enormes Problembei der Sache. Damit sich die Katze aus dem restlichen Eis befreien und einen Weg aus dem Tresor bahnen konnte, musste – muss sie lebendig sein. Aber sie ist seit Tausenden von Jahren tot.»
    «Über genau dieses Problem hatten wir geredet, als Sie das letzte Mal hier in dieses Labor kamen», sagte Faraday. «Ich habe auch dafür eine Lösung – eine theoretische zwar, aber eine Lösung.»
    Marshall sah ihn an. «In den Zellen hätten sich Eiskristalle gebildet, als das Tier erfror. Das wäre tödlich gewesen.»
    «Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Vergangenes Jahr war ich in Berkeley auf einem Kongress von Evolutionsbiologen. Ich habe mir einen Vortrag über das Beresowka-Mammut angehört.»
    «Nie davon gehört.»
    «Das Beresowka-Mammut war ein Wollmammut, das zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in Sibirien gefunden wurde. Steifgefroren, mit Resten von Butterblumen zwischen den Zähnen.»
    «Und?»
    «Nun, die Frage lautet: Wie konnte das Mammut so schnell erfrieren – an einem Ort, der warm genug war, dass Butterblumen blühen konnten?»
    Plötzlich begriff Marshall. «Ein Fallstrom kalter Luft, verursacht durch eine Inversionswetterlage.»
    Faraday nickte. «Superkalte arktische Luft.»
    «Ich sehe, worauf Sie hinauswollen. Als das Mammut erfror, muss es Sommer gewesen sein. Doch hier – mitten im Winter …» Marshall

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