Nullpunkt
hierhergekommen und wusste doch nicht, wie er anfangen oder welche Fragen er dem alten Schamanen stellen sollte. Er atmete tief durch. «Hör zu. Usuguk. Ich weiß, dass wir dir Scherereien und Sorgen gemacht haben, und das tut mir wirklich sehr leid. Es lag nie in unserer Absicht.»
Der Tuniq schwieg.
«Jetzt sind wir in Schwierigkeiten. Sehr ernsten Schwierigkeiten. Und ich bin hergekommen, weil ich hoffe, dass du uns helfen kannst.»
Usuguk schwieg noch immer. Sein Gesichtsausdruck war gleichmütig, beinahe verschlossen.
«Der Berg», fuhr Marshall fort. «Ich meine den Berg, von dem du gesagt hast, er sei böse. Wir haben im Verlauf unserer Experimente dort etwas gefunden. Ein Wesen, größer als ein Polarbär, gefangen im Eis. Wir … wir haben es aus dem Eis geschnitten. Und jetzt ist es verschwunden.»
Noch während Marshall sprach, veränderte sich der Gesichtsausdruck des Schamanen. Tiefes Erschrecken stand auf den verwitterten Zügen des Alten.
«Wir wissen nicht genau, was für ein Wesen es ist. Ich kann dir nur so viel sagen: Es hat Verletzte gegeben. Sogar Tote.»
Der Schock verging und wich der gleichen Mischung aus Angst und Sorge, die Marshall von ihrer ersten Begegnung in Erinnerung hatte. «Warum bist du zu mir gekommen?», fragte der Tuniq.
«Vor fünfzig Jahren gab es eine wissenschaftliche Abteilung in der Basis. Ihre Mitglieder fanden ein tragisches Ende. Die meisten Wissenschaftler starben, doch wir konnten eines ihrer Journale bergen. Es enthielt die folgenden Worte:
Die Tunit haben die Antwort.
»
Usuguk saß reglos da und starrte ins Feuer. Marshall wartete. Er wusste nicht, ob er weitersprechen sollte oder schweigen. Nach ungefähr einer Minute beugte sich der Schamane zur Seite, kramte in einer Auswahl ritueller Gegenstände und packte etwas, das wie eine Art Trommel aussah, einen dünnen Ring mit einem Durchmesser von vielleicht dreißig Zentimetern, straff mit Leder bespannt und mit einem Knochenstiel versehen. Langsam begann er das Instrument gegen die Handfläche der anderen Hand zu schlagen, wobei er es zwischen den Schlägen am Stiel drehte, sodass er beim Trommeln abwechselnd die Vorder- und die Rückseite traf. Er sang zu diesem Rhythmus, leise zuerst, dann lauter und lauter, bis der Gesang das Schneehaus erfüllte wie der Rauch des Feuers. Endlich, nach mehreren Minuten, endete der Gesang, und das Gesicht des Schamanen drückte wieder Frieden aus. Er legte die Trommel beiseite, öffnete den Lederbeutel, tauchte die Hand hinein und brachte zwei schmierige Kugeln aus weichem Material zum Vorschein, die eine blau, die andere rot. Vorsichtig ließ er sie ins Feuer fallen, eine nach der anderen. Zweifarbiger Rauch stieg zur Decke hinauf und wurde an den Rändern violett.
«Tashayat kompok»
, murmelte der Alte und beobachtete den Rauch. «Wie du es bestimmst.» Marshall nahm nicht an, dass der Schamane mit ihm redete.
Er unterdrückte den Impuls, auf die Uhr zu sehen. «Weißt du, was der Wissenschaftler damit gemeint hat?», fragte er schließlich. «Als er schrieb, die Tunit hätten die Antwort?»
Usuguk schwieg. Seine Augen waren unverwandt auf das Feuer gerichtet.
«Ich weiß, dass du etwas von der Welt gesehen hast», fuhr Marshall fort. «Dein Englisch verrät es mir. Wenn du uns helfen kannst, wenn du etwas darüber weißt, dann bitte sag es mir.»
«Es geht mich nichts an. Ihr habt diese Dunkelheit selbst über euch gebracht. Ich habe bereits getan, was ich konnte. Ich habe eine lange Reise unternommen – eine Sonne, einen Mond und wieder eine Sonne –, um euch zu warnen. Ihr habt nicht auf meine Warnung gehört.»
«Wenn das so ist, dann bitte ich dich dafür um Entschuldigung. Ich denke allerdings, dass gewaltsamer Tod ein zu hoher Preis für unsere Ignoranz ist.»
Usuguk schloss die Augen. «Der Zirkel, den ihr angefangen habt, muss von euch vervollständigt werden. Selbst der Zirkel des Todes besitzt eine eigene Schönheit.»
«Am Tod von Josh Peters war nichts Schönes. Wenn du etwas weißt, ganz gleich, wie unbedeutend oder zusammenhanglos es dir erscheinen mag – schuldest du es deinen Mitmenschen, es zu teilen.»
«Ihr seid weltliche Wesen. Ich bin Geist», erwiderte Usuguk langsam. «Ich habe euer Leben lange hinter mir gelassen. Ich kann nicht wieder zurück.»
Marshall saß da und fragte sich, was er sonst noch sagenkonnte. Nach einer Weile räusperte er sich. «Lass mich dir etwas erzählen. Ich habe vor langer Zeit ein Leben hinter mir
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