Nullzeit
sie zusammen Bus und zogen durch die Wälder des Neandertals. Dass meine Mutter ihr ein Taschengeld dafür zahlte, folgte weniger Antjes Erwartungen als der Gewohnheit, die Angehörigen der Familie Berger für ihre Dienste zu entlohnen.
Nachdem ich zum Studieren nach Köln gezogen war, lag Antje bei schlechtem Wetter mit Todd auf dem Boden in meinem Zimmer, hörte meine Musik, las meine Bücher und wartete aufs Älterwerden. Wenn ich in den Semesterferien nach Hause kam, beugte ich mich am Schreibtisch über die Rätsel einer juristischen Hausarbeit, während sich Todd und Antje auf dem Flokati eine Tüte Gummibärchen teilten. Wollte ich aufs Klo, stieg ich über beide hinweg. Antje störte mich nicht. Ihre Anwesenheit hatte beruhigende Wirkung. Sie war fast sechzehn, als ich eines verregneten Nachmittags versehentlich mit ihr schlief. Weil es keinem von uns schadete, wiederholten wir diese gemeinsame Freizeitbeschäftigung gelegentlich.
Später behauptete Antje, sie sei schon als Kind nicht in Todd, sondern in mich verliebt gewesen. Aber eine Siebenjährige könne sich einem Siebzehnjährigen nicht nähern. Auch eine Zwölfjährige habe keine Chance bei einem Studenten. Erst ein sechzehnjähriges Mädchen sei in der Lage, einen Sechsundzwanzigjährigen zu beeindrucken, weshalb ihr Plan in erster Linie aus Warten bestanden habe. Auf den langen Spaziergängen durchs Neandertal habe sie sich im Geist mit mir unterhalten. In meinem Zimmer hätten selbst die Bücher nach mir gerochen. Für erste Masturbationsübungen sei sie in meinen Kleiderschrank gekrochen. Ich hätte es unhöflich gefunden, ihr nicht zu glauben. Bei Gericht hatte ich erlebt, wie Menschen die Vergangenheit nach selbst entwickelten Mustern formten. In heiliger Überzeugung erzählten sie den gröbsten Unsinn. Vielleicht war das die wichtigste Erkenntnis meiner juristischen Ausbildung: Wer nicht die Wahrheit sagte, log noch lange nicht. In meinen Augen war Antje so ein Fall.
An dem Tag, als ich bei meinen Eltern ein paar Dinge holen wollte, die ich für die Insel brauchte, lag Antje auf meinem Bett und löste Kreuzworträtsel. Meine Mutter stand im Türrahmen und schrie. Mein Vater hatte seinen Chefarztposten im Klinikum verlassen, um sie dabei zu unterstützen. Da er mein Studium finanziert hatte, schuldete ich ihm mein Leben. So lautete seine Position. Wir einigten uns darauf, dass ich nicht die geringste Unterstützung zu erwarten hätte, wenn ich in einigen Wochen gescheitert und blamiert von meinem Abenteuer zurückkehren würde. Mit meinem Bundeswehrseesack über der Schulter floh ich aus dem Haus.
Antje folgte mir zum Bahnhof, in den Zug und bis in meine Kölner WG. Sie weigerte sich einfach, von meiner Seite zu weichen. Ich war erschöpft und beschloss, dass ich ihr nicht verbieten konnte, sich am 31. Dezember 1997 zur selben Zeit wie ich am Flughafen einzufinden. Es zeigte sich, dass jenes Taschengeld, das sie jahrelang für die Betreuung von Todd erhalten hatte, in der Summe ohne Weiteres für ein Flugticket reichte.
Meine Bundeswehrzeit hatte ich bei den Pioniertauchern verbracht und mich in den Semesterferien beim DLRG zum Tauchlehrer ausbilden lassen. Als wir auf der Insel ankamen, hatte ich über fünfhundert Tauchgänge im Logbuch und verdiente von der ersten Stunde an Geld. Antje hatte in der Schule Spanisch gelernt und besaß zudem Organisationstalent. Die Gründung einer Tauchschule brachte eine Menge Arbeit mit sich, die außerhalb des Wassers erledigt werden musste. Antje übernahm die komplette Logistik, von Behördengängen und Buchführung bis zur Pflege der Ausrüstung, so dass ich mich von Anfang an aufs Tauchen konzentrieren konnte. Bald ließ sich nicht mehr bestreiten, dass wir ein gutes Team geworden waren.
Todd starb ein paar Monate nach unserem Verschwinden aus Deutschland. Dass er zu diesem Zeitpunkt fast dreizehn Jahre alt war, ließ Antje nicht gelten. Sie war überzeugt, ihren besten Freund umgebracht zu haben, um mit mir zusammen zu sein. Als die Tauchschule so gut lief, dass wir die Häuser in Lahora erwerben konnten, setzte sie Himmel und Hölle in Bewegung, um sich vom selben Züchter einen identischen Hund aus der Eifel schicken zu lassen. Tatsächlich sah der neue Todd dem alten zum Verwechseln ähnlich. Er liebte Antje, und Antje liebte ihn. Dass sie ihre Schuldgefühle mit einem so einfachen Trick zum Schweigen bringen konnte, fand ich unheimlich.
»Ich habe eine Flasche von Nenad offen.« Nenad war
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