Nullzeit
der weiß getünchten Bänke in der Nähe der kleinen Kirche. Die Drachenbäume schirmten das Licht der Laternen ab. In regelmäßigen Abständen glühte das Ende von Theos Zigarette vor seinem Gesicht. Offensichtlich wollte er etwas sagen. Ich wartete geduldig. Als es so weit war, wünschte ich, wir wären nach dem Essen einfach zurück zum Auto gegangen.
Er sagte: »Du stehst auf sie. Stimmt’s?«
Ich setzte an, etwas zu erwidern, aber er winkte sofort ab.
»Lass nur. Sie schafft das immer. Das ist wie eine Sucht bei ihr.« Er bot mir eine Zigarette an, die ich ablehnte. »Im Grunde will ich dich warnen.«
Es wäre mir leichter gefallen, ihm zuzuhören, wenn er an diesem Abend getrunken hätte. Leider wusste ich, dass er absolut nüchtern war.
»Jola kommt aus einer alten Familie. Die sind mit der Ausbeutung anderer Menschen reich geworden und haben ihr Vermögen durch zwei Weltkriege gerettet. Eine Frau wie Jola weiß nicht, was es heißt, für etwas zu arbeiten. Sie erwartet, dass man ihr gibt, was sie will. Das Einzige, was sie niemals bekommen hat, ist Anerkennung. Und genau das macht sie gefährlich.«
Nichts von dem, was er erzählte, ging mich etwas an. Trotzdem wollte ich plötzlich, dass er weitersprach.
»Im Grunde ist sie immer noch ein kleines Mädchen, das um den Respekt des Vaters kämpft. Hartmut von der Pahlen. Sagt dir der Name etwas?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Filmproduzent. Einer der wichtigsten der Branche. Ein Arschloch. Na, egal.«
Theo drückte die Zigarette aus und zündete sich eine neue an.
»Ich bin für sie eine Ersatzfigur, bei der sie weiter nach Vaterliebe sucht. Solange ich ihr die nicht gebe, bleibt sie bei mir. Und rächt sich täglich tausendmal.«
»Einzelkind?«
Ich biss mir auf die Lippen. Zuhören war schlimm genug, Fragen stellen noch schlimmer. Normalerweise wechselte ich in solchen Situationen das Thema.
»Es gibt zwei ältere Brüder, der eine Arzt, der andere Banker. Jolas Vater wird nicht müde, von ihren Erfolgen zu schwärmen. Na, egal.«
Ein Roller fuhr vorbei. Die junge Frau auf dem Sozius schrie dem Fahrer etwas ins Ohr. Beide lachten.
»Ich erzähle dir eine Geschichte«, sagte Theo, »damit du verstehst, wie Jola aufgewachsen ist. Als Kind wünschte sie sich sehnlichst ein Haustier, Meerschweinchen, Kaninchen, irgendetwas zum Liebhaben. Als sie zu Weihnachten ein kleines Kätzchen bekam, war sie überglücklich, kümmerte sich Tag und Nacht um das Tier, schleppte es ständig mit sich herum. Zwei Wochen später fiel die Heizung aus. Damit das Kätzchen nicht fror, nahm Jola es mit ins Bett und deckte es mit ihrem Kissen zu. Am nächsten Morgen fand sie das Tier unter dem Kissen, steif und kalt wie ein Stück Holz. Jolas Mutter warf das Kätzchen in die Mülltonne und gab die Anekdote fortan auf Partys zum Besten. Dabei zog sie Jola am Zopf und sagte lachend: Meine kleine Mörderin.« Mit zusammengekniffenen Augen blickte Theo über den Platz. »Na, egal.« Letzteres schien sein Lieblingsausdruck zu werden. Wir schwiegen eine Weile.
»Vielleicht fragst du dich, warum ich überhaupt mit ihr zusammen bin«, sagte Theo schließlich. »Ganz einfach. Ich liebe sie. Außerdem kriege ich bei anderen Frauen keinen hoch. Ich hab’s probiert. Mit Regieassistentinnen am Theater, mit Kulturhausfrauen nach Lesungen, mit Nutten am Straßenstrich. Ein Desaster.«
Er drehte sich zu mir, sein Zeigefinger zielte auf meine Nasenspitze.
»Erste Regel im Umgang mit Frau von der Pahlen: Glaube niemals, was sie erzählt. Vor allem nicht in Bezug auf mich. Sie posaunt überall herum, ich läge nur auf der faulen Haut. Dabei arbeite ich an einem großen Gesellschaftsroman. Ob in drei oder vier Bänden, ist noch nicht sicher.«
Er machte eine Pause und streckte den Rücken, als wären wir dabei, eine anstrengende Arbeit zu verrichten.
»Seit Jahren sehe ich den Kollegen zu, wie sie durch den Morast der eigenen Befindlichkeit waten, bis zur Erschöpfung bemüht, aus Matsch eine Skulptur zu formen. Ohne mich. Mir geht es ums große Ganze. Ich kann warten. Jola nennt es Schreibkrise, ich nenne es Geduld.«
Er bewegte die Finger in der Luft, als spielte er Klavier.
»Zwischendurch schreibe ich Kurzgeschichten. Fingerübungen.« Er sah mich von der Seite an. »Willst du mal was lesen?«
Ich räusperte mich. »Leider verstehe ich nichts von Literatur.«
»Umso besser. Literaturfeinde sind die besten Leser. Erinnere mich daran, dir bei Gelegenheit etwas zu geben.«
Er
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