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Nullzeit

Nullzeit

Titel: Nullzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Zeh
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Stoff. Mit einer Hand stützte ich ihr Steißbein, mit der anderen öffnete ich Knopf und Reißverschluss meiner Jeans.
    »Wir drei stemmen das morgen zusammen?«
    »Ja«, sagte ich.
    »Im Ernst, Sven!«
    »Ja, verdammt.«
    »Versprichst du es? Schwörst du?«
    »Ja.«
    Hinter ihr befand sich nichts, wogegen ich sie hätte lehnen können. Ich würde sie gut festhalten müssen, um sie nicht von der Truhe zu stoßen. Als ich mit dieser Überlegung fertig war, stand sie bereits zwei Meter entfernt. Das Kleid hing glatt bis zu den Fußknöcheln. Sie sah perfekt aus. Bis auf die gelöste Haarsträhne und die nassen Flecken auf der Brust.
    »Komm her«, sagte ich töricht.
    Sie betrachtete meinen Schwanz, der aus der offenen Hose ragte.
    »Wir sollten uns ein bisschen ausruhen«, sagte sie.
    »Bitte.«
    »Schau mal auf die Uhr.«
    Ich war so verwirrt, dass ich gehorchte. Zehn nach zwölf.
    »Happy Birthday, Sven.«
    Noch einmal trat sie an mich heran und küsste mich. Flüchtig spürte ich ihre Finger auf meinem Bauch.
    »Glaub mir, morgen wird ein schöner Tag. Erst dein Tauchabenteuer, dann der Rest.«
    Die Absätze ihrer Schuhe klangen laut auf den Planken der Gangway. An Land drehte sie sich um.
    »Abfahrt wie immer um acht?«
    »Um sechs«, sagte ich. »Wir brauchen die Flut.«
    »Gute Nacht.«
    »Warte«, rief ich. »Wir können doch zusammen nach Hause fahren.«
    Sie warf mir eine Kusshand zu und lief den Kai entlang. Ein paar Meter weiter wartete ein Taxi. Ausgeschlossen, dass es sich zufällig dort aufhielt. Jemand musste es gerufen haben. Eine ganze Weile sah ich den roten Rücklichtern nach, die über die Promenade der Marina schlichen, bis sie am Ende der Ladenzeile links abbogen und den Berg hinauf beschleunigten. In meinem Kopf existierte nicht einmal das Echo eines Gedankens. Ich ordnete meine Kleidung und stieg unter Deck, um mein Sakko und Theo zu holen.

Jolas Tagebuch, zwölfter Tag.
    Mittwoch, 23. November. Ein Uhr früh.
    Kleine Verletzungen sind schmerzhaft. Mit nackten Zehen gegen die verfluchte Kante zwischen Bad und Schlafzimmer knallen, die irgendein betrunkener Architekt bei der Abnahme übersehen hat. Sich das Schienbein am Couchtisch stoßen, genau an der Stelle, wo der Knochen noch vom letzten Zusammenprall eine Delle hat. Sich den halben Fingernagel am Polster des Autositzes abreißen. Das alles tut wahnsinnig weh. Der ganze Körper musiziert wie ein Orchester ohne Dirigent. Leuchtende Punkte tanzen durchs Blickfeld. Dann kommt der Hass. Du willst das Auto sprengen. Den Couchtisch zertrümmern. Die Wohnung mitsamt der verfluchten Kante in Flammen aufgehen lassen. Du wärst zum Töten bereit. Aus Rache.
    Ganz anders, wenn man erschossen wird. Widerstandslos empfängt der Körper die erste Kugel. Dann die zweite und dritte. Bamm, bamm, bamm. Ohne Mühe dringen die Metallstücke ins Fleisch und bleiben irgendwo stecken. Keine Schmerzen. Du schaust an dir herunter, milde erstaunt. Blut breitet sich aus, dein Bauch wird warm. Gar nicht unangenehm. So leicht kann Sterben sein. Vielleicht versuchst du noch, dir den Gesichtsausdruck des Mörders zu merken. Aus Freude darüber, wie gut er getroffen hat, drückt er noch mal und noch mal ab, obwohl das wirklich nicht nötig wäre. Er schaut sich in der Runde um, ob auch alle gesehen haben, dass du stirbst. Einen Moment glaubst du, er würde sich verbeugen. Sein Publikum hat er sorgfältig gewählt. Diese Sorte Leute ist liebend gern dabei, wenn jemand krepiert. Um die Schadenfreude zu verbergen, schauen sie betreten in die Fischterrine. Falten fromm die Hände, um nicht zu applaudieren. Du drehst dich um und rennst. Mit letzter Kraft. Um ihnen den Spaß nicht zu gönnen, dich endgültig zusammenbrechen zu sehen. Der Mörder lacht. Er haut vor Vergnügen die Hand auf den Tisch. Du hörst seine Stimme in deinem Kopf. Na, wie gefällt dir das. Hast du gedacht, du kriegst mich bei den Eiern. Am Ende gewinne ich. Merk dir das. Du kleine Schlampe.
    Da stand ich nun mitten in der Nacht an Deck einer Segelyacht und wartete auf die Schmerzen. Vergeblich. Kein Hass, keine Wut, kein Verlangen nach Rache. Selbst Lotte, die mich so lang am Leben gehalten hat, war mir plötzlich egal. Ich spürte nur den Wind, der das Fieber kühlte, und fragte mich, wie es weitergehen sollte. Am Samstag ins Flugzeug steigen, mich in meiner Berliner Wohnung beerdigen und schön langsam verrotten, während die Würmer, die mich verzehren, alle das Gesicht des alten Mannes tragen? Ein

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