Nullzeit
unterwegs ständig die Sirenen heulen«, sagte er zu dem Mann auf dem Beifahrersitz, der mit den anderen Fahrzeugen über Funk Verbindung hielt.
»Wo wir können, fahren wir bei Rot über die Kreuzungen …«
Der Mann auf dem Vordersitz leitete den Befehl weiter, und die Autokolonne setzte sich in Bewegung. Es waren vier Fahrzeuge. Ein Wagen vornweg, dann der Wagen mit Madame Devaud. Dann ein dritter Wagen - der jedes Fahrzeug rammen sollte, das versuchen würde, den Wagen mit Madame Devaud abzufangen. Der Wagen mit Boisseau am Schluß. Es war 21.09 Uhr.
Vanek rannte die Treppe von der Metro-Station hinauf und in die Halle des Gare de l’Est. Er verlangsamte seine Schritte und ging in ruhigem Tempo weiter, als er hinten am Bahnsteig den Stanislas-Expreß sah. Als er näher kam, konnte er gerade noch die letzten Reisenden des Zuges durch die offene Sperre gehen sehen. Es war 21.15 Uhr. Er hatte sich in der Metro ziemlich verspätet, war aber machtlos gewesen. Wäre er ausgestiegen, um ein Taxi zu nehmen, hätte er noch mehr Zeit gebraucht. Er wartete ein paar Minuten an einem Zeitungsstand - in der vagen Hoffnung, sie würden die Devaud erst dann hinausbegleiten, wenn die übrigen Reisenden ausgestiegen waren - und ging dann zur nächsten Telefonzelle, um die Pariser Kontaktnummer anzurufen.
»Hier Salicetti . . «
»Ich habe nichts für Sie …«
»Aber ich habe was für Sie«, bellte Vanek,
»also bleiben Sie dran. Ihr vorhergehender Befehl kann jetzt nur in Paris ausgeführt werden - ich rufe vom Gare de l’Est aus an. Ich brauche die Adresse der Firma.«
Zum erstenmal seit Beginn dieser Telefonate wirkte die kalte und anonyme Stimme am anderen Ende der Leitung unsicher. Es gab eine kurze Pause.
»Es ist besser, wenn Sie alle halbe Stunde anrufen - zehn Uhr, zehn Uhr dreißig, und so weiter«, erwiderte sie dann.
»Ich habe im Augenblick keine Informationen …«
»Ich brauche weitere Warenproben«, sagte Vanek in hartem Ton.
Die Stimme gewann ihre Sicherheit zurück; auf diesen Fall war ihr Inhaber vorbereitet. Er, Salicetti, müsse zur Bar Lepic am Place Madeleine gehen und dem Inhaber den Namen der Firma, Lobineau, nennen. Der Barbesitzer werde ihm dann den Schlüssel zu einem Gepäckschließfach geben. Die Warenproben befänden sich im Gare du Nord. Zur Sicherheit solle er alle halbe Stunde anrufen. Um zehn, halb elf … Vanek knallte den Hörer auf die Gabel. Nicht zu fassen, so ein primitives Arrangement. Als er noch in Paris war, wurden solche Dinge mit mehr Raffinesse gehandhabt. Er nahm ein Taxi zur Bar Lepic, nahm einen Umschlag in Empfang und gab ein Trinkgeld von fünf Franc, um die Übergabe des Umschlags für jeden normal aussehen zu lassen, der zufällig zusah. Anschließend nahm er ein anderes Taxi zum Gare du Nord.
Mit dem numerierten Schlüssel, den er im Umschlag gefunden hatte, öffnete er das Schließfach im Gare du Nord und entnahm ihm eine Reisetasche mit einem Schottenmuster. Auch das war hirnverbrannt: Die Tasche fiel zu sehr auf. Es war eine längliche Tasche von der Art, in der man auch Tennisschläger unterbringen kann. Der Inhalt der Tasche zeigte dann aber doch, daß irgend jemand gründlich nachgedacht hatte: Vanek entdeckte eine französische MAT-Maschinenpistole mit Metallschaft und gesichertem, nach vorn geklapptem Magazin sowie ein Ersatzmagazin; einen 38er Smith & WessonRevolver mit genügend Munition sowie ein Messer mit breiter Schneide, das in einer Klappscheide steckte. Vanek durchquerte die leere Halle und ging zu der anderen Wand mit Schließfächern. Er steckte die Tasche in ein leeres Fach, schloß die Tür, steckte eine Münze in den Münzschlitz und drehte den Schlüssel um. Er hatte nicht die Absicht, Waffen bei sich zu tragen, wenn es nicht unbedingt nötig war - vor allem deshalb nicht, weil ihm bei seinen beiden Taxifahrten aufgefallen war, daß ungewöhnlich viele Polizisten auf den Straßen unterwegs waren. Vanek hatte auch Mannschaftswagen mit den harten Burschen der CRS an verschiedenen strategischen Punkten der Stadt entdeckt. Er hatte aber auch notiert, daß die Taxis wie immer durch die Stadt fuhren. Den Pariser Taxifahrern schenkte kein Mensch Beachtung; sie gehören zum Stadtbild wie der Louvre.
Vanek, der seit dem Imbiß im Renault auf der Fahrt von Straßburg nach Saverne nichts mehr gegessen hatte, hätte nur zu gern eine Kleinigkeit gegessen und eine Tasse Kaffe getrunken. Er sah auf seine Armbanduhr und fluchte. Es
Weitere Kostenlose Bücher