Nullzeit
Merkmal seines Gesichts.« Den Mund an die richtige Stelle zu setzen, kostete sie fünf Minuten. Sie wühlte in einem Stapel von Mündern, versuchte einen nach dem anderen, bis sie endlich zufrieden war. Sie schürzte die Lippen und kniff die Augen zusammen, als sie letzte Hand anlegte. Grelle sah mit ausdruckslosem Gesicht zu. »Das ist der Leopard«, sagte sie wenige Minuten später. »So sah er damals aus.«
Der Präfekt stand auf. Er zeigte keine Reaktion. »Madame Devaud, ich weiß, daß Sie das Fernsehen nicht mögen, aber ich möchte Sie trotzdem bitten, sich ein paar Ausschnitte anzusehen, die ich vorhin habe machen lassen. Sie sind auf etwas aufgezeichnet, was wir Kassetten nennen. Sie werden ganz kurz drei Männer sehen - alle älter als der Mann, dessen Gesicht Sie mit dem Identikit zusammengestellt haben. Ich möchte Sie bitten, mir zu sagen, welcher der drei Männer - falls es überhaupt einer von ihnen ist - der Leopard ist.«
»Dann hat er sich also sehr verändert?«... Grelle antwortete nicht, sondern ging zum Fernsehgerät und schaltete es ein. Der erste Ausschnitt zeigte Roger Danchin bei der Fernsehansprache vor einem Jahr zur Zeit der schweren Unruhen. Er appellierte an die Bürger, Ruhe und Besonnenheit zu wahren; bei weiteren Demonstrationen werde es Massenverhaftungen geben. Es folgte ein Schnitt, und dann erschien Alain Blanc, selbstbewußt und emphatisch; er erklärte der Nation, weshalb der Verteidigungshaushalt aufgestockt werden müsse. Madame Devaud sagte nichts und griff nach ihrem Cognacglas, als Blanc ausgeblendet wurde und Guy Florian erschien. Er hielt eine seiner antiamerikanischen Reden. Er sprach wie immer großspurig und mit sardonischem... Witz, gestikulierte mitunter heftig; sein Gesichtsausdruck war ernst. Erst zum Schluß erschien sein berühmtes Lächeln. Der Bildschirm wurde leer. Grelle stand auf und schaltete das Gerät
aus.
»Der letzte Mann«, sagte Annette Devaud, »der die Amerikaner angriff. Er hat sich doch kaum verändert, nicht wahr?«
Karel Vanek suchte sich sein Taxi mit großer Sorgfalt aus. Er stand auf dem Bürgersteig. Die Tasche lag zu seinen Füßen. Taxis mit einem jungen Mann am Steuer ließ er vorbeifahren; einen älteren Fahrer wollte er aber auch nicht. Ältere Menschen geraten leicht in Panik und handeln impulsiv. Er hielt nach einem Taxifahrer mittleren Alters Ausschau, nach einem Mann, der eine Familie zu versorgen hatte und genügend Erfahrung besaß, um vorsichtig zu sein. Er rief einem näherkommenden Taxifahrer etwas zu und winkte den Wagen heran.
»Es ist ein Haus in der Nähe des Boulevard des Capucines«, sagte er dem Fahrer. »Ich weiß die Adresse nicht mehr, aber ich werde die Straße wiedererkennen, wenn ich sie sehe. Es ist eine Seitenstraße auf der linken Seite …«
Vanek lehnte sich auf dem Rücksitz zurück. Die Tasche hielt er auf dem Schoß, Es stimmte, was er dem Fahrer gesagt hatte: Er erinnerte sich zwar nicht mehr an den Namen der Straße, er war aber vor drei Jahren mehrmals in ihr auf und ab spaziert; es war eine enge und dunkle Straße, in der kaum Straßenlaternen brannten. Um diese Zeit gab es kaum noch Verkehr, und der Boulevard des Capucines, eine Straße mit teuren Geschäften, war an diesem kühlen Dezemberabend wie leergefegt, obwohl Weihnachten vor der Tür stand. Der Taxifahrer fuhr langsamer, um seinem Fahrgast Gelegenheit zu geben, die Straße zu finden.
»Hier müssen Sie einbiegen!«
Vanek hatte die Trennscheibe zum Fahrer geöffnet, um ihm Anweisungen zu geben. Als der Wagen in eine enge, kurvenreiche Straße einbog, blieb Vanek vornübergebeugt
sitzen. Links und rechts ragten hohe Häuser auf; die Straße war so leer, wie Vanek sie in Erinnerung hatte. An den Boulevard des Capucines erinnerte in dieser tiefen Straßenschlucht nichts mehr. Der Fahrer fuhr weiter und wartete auf neue Anweisungen. Vanek sah angestrengt durch die Windschutzscheibe; eine Hand steckte in der Reisetasche. Bald würden sie am anderen Ende der Straße sein und in eine belebtere Gegend kommen. »Wir sind da. Halten Sie!«
Der Fahrer hielt, zog die Handbremse an und ließ den Motor laufen. Vanek preßte ihm die Mündung der Smith & Wesson in den Nacken. »Keine Bewegung. Das ist eine Pistole.« Der Fahrer erstarrte und saß sehr still. Vanek schoß einmal.
Um 22.45 Uhr fuhr ein Streifenwagen vor dem Eingang des Sûreté-Hauptquartiers in der Rue des Saussaies vor. Als erster trat Boisseau auf die Straße und
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