Nullzeit
sie umdrehten, sahen sie, wo die Kugeln des Mörders getroffen hatten: Die Einschüsse liefen quer über die Brust, wie von einer groben Nähnadel gezogen.
»Der Mann ist bewaffnet und gefährlich …« In der gesamten Innenstadt von Paris jagten Streifenwagen los, die von dem diensthabenden Kommissar in der Funkleitstelle dirigiert wurden. Sie bildeten ein Netz, das sich allmählich zusammenzog. Dieser Alarm war dem Kommissar in gewisser Weise sogar willkommen: Er gab ihm die Chance, das Sicherheitssystem zu testen, bevor es am folgenden Tag ernst wurde. Der Kordon wurde immer enger und näherte sich dem vermutlichen Mittelpunkt Place Beauvau. Mit heulenden Sirenen rasten die Streifenwagen über die großen Boulevards. Der Kommissar in der Funkleitstelle hatte sämtliche zur Verfügung stehenden Kräfte eingesetzt und gab immer wieder seine Warnung durch. »Der Mann ist bewaffnet und äußerst gefährlich …«
Sie entdeckten Vanek nicht weit vom Gebäude der Sûreté. Sie sahen sein Taxi, das auf der Seite der Tuilerien gerade die Place de la Concorde überquerte. Immer mehr Streifenwagen fuhren jetzt von allen Seiten auf den riesigen Platz sie kamen von der Seine-Brücke, von den Champs-Elysées, von der Rue de Rivoli und der Avenue Gabriel. Der vor wenigen Sekunden noch völlig leere Platz war jetzt in gleißendes Scheinwerferlicht getaucht. Motorenlärm, heulende Sirenen und kreischende Reifen durchbrachen jetzt die Stille. Vanek trat auf die Bremse und hielt an der Bordsteinkante. Mit der Maschinenpistole im Arm rannte er auf den einzigen Fluchtweg zu, der ihm blieb. Die Gärten der Tuilerien.
An dieser Stelle der Place de la Concorde verläuft jenseits des Bürgersteigs eine niedrige Steinmauer. Dahinter kommt wieder eine gepflasterte Fläche. Dahinter erhebt sich eine hohe steinerne Mauer zu einer Balustrade, hinter der der Park der Tuilerien wie eine riesige Plattform mit Aussicht auf den gesamten Platz liegt. Vanek lief auf den Eingang der Tuilerien zu und sah einen Streifenwagen anhalten, der ihm den Weg abschnitt. Vanek riß die Waffe hoch und schoß das zweite Magazin leer. Überall warfen sich Polizisten flach auf den Boden. Vanek warf die Maschinenpistole weg, sprang über die niedrige Steinmauer, rannte über die gepflasterte Fläche und begann, sich an der hohen Mauer hochzuhangeln, wobei er sich an vorspringenden Steinen abstützte. Links und unter ihm führten Treppenstufen nach unten und unter die Erde. Er hatte fast die Balustrade erreicht; wenn er erst einmal oben war, hatte er den ganzen Park, um sich zu verstecken. Hinter sich hörte er Rufe und das Sirenengeheul eines halben Dutzends weiterer Streifenwagen, die mit quietschenden Reifen auf den Platz fuhren. Vanek schwang ein Bein über die Balustrade. Der Park dahinter war eine dunkle, baumbestandene Leere, ein Ort, der ihm eine Chance gab.
Sie erwischten ihn im Kreuzfeuer: zwei Gendarmen rechts unten auf dem Bürgersteig und eine Gruppe von drei anderen Beamten links unten. Vanek war gerade im Begriff gewesen, sich über die Balustrade zu schwingen, als die Gendarmen ihre Magazine auf ihn leerschossen. Der Lärm war ohrenbetäubend, weil jetzt alle Streifenwagen angehalten hatten. Vanek hing leblos da, ein Bein ruhte auf der Balustrade, als seine Hand schlaff wurde und losließ. Er rutschte ab und fiel, während die Polizisten weiterschossen. Vanek landete in dem tiefen Treppenschacht, in dem ein großes Schild verkündete: ›Descente interdite‹. Zugang verboten.
20
»Eine Frau, die mich mit Sicherheit als den Leoparden identifizieren kann, ist in Paris angekommen. Ihr Name ist Annette Devaud. Man hat sie offenbar unter schwerer Bewachung mit dem Stanislas - Expreß hergebracht …«
Ein Hund bellte, ein ohrenbetäubendes Geräusch aus dem Tonbandgerät. Die vertraute Stimme, die so leicht wiederzuerkennen war, sprach in scharfem Tonfall.
»Ruhig, Kassim! Mir ist nicht klar, wo wir die Zeit hernehmen sollen, sie zu erwischen. Ich persönlich kann nichts unternehmen, ohne mich dem schwersten Verdacht auszusetzen …«
»Warum haben Sie sie nicht schon früher auf die Liste gesetzt?«
Die zweite Stimme, gedämpft, aber deutlich sprechend, war ebenfalls leicht wiederzuerkennen.
»Sie wurde bei Kriegsende blind - ich nahm also an, daß sie keine Gefahr mehr darstellte. Mein Referent hat den Polizeichef von Saverne angerufen, kurz bevor Sie kamen - sie muß sich vor kurzem einer Operation unterzogen haben, die
Weitere Kostenlose Bücher