Nullzeit
Tisch damit …«
Lennox zog seinen Reisepaß vorsichtig aus der Innentasche seines tropfenden Regenmantels und warf ihn wie beiläufig auf den Tisch. Um mit der rechten Hand nach dem Dokument greifen zu können, mußte der Mann mit der Waffe sich den Schaft unter den linken Arm klemmen; als er dies tat, stieß Lennox schnell die Mündung zur Seite, packte den Lauf und entwand dem Mann die Maschinenpistole.
»Ich weiß nicht, wer Sie sind«, versetzte er, als der Franzose das Gleichgewicht wiedergewann und ihn anstarrte, »aber Sie könnten jemand sein, der den echten Pförtner gerade außer Gefecht gesetzt hat…«
»Pförtner? Ich bin Hauptmann Moreau, der Assistent des Obersten.« Der Mann war außer sich vor Zorn und untersuchte den Paß weit gründlicher, als eigentlich notwendig gewesen wäre. »Sie könnten sich als toter Mann wiederfinden - so blödsinnige Risiken einzugehen«, brummte er.
»Weniger riskant, als sich an diesem gottverlassenen Ort einem Unbekannten mit einer Waffe in der Hand gegenüberzusehen.« Lennox bestand darauf, Moreaus Ausweis einzusehen, bevor er die Waffe zurückgab. Zuvor aber legte er das vorstehende Magazin parallel zum Lauf um und machte die Maschinenpistole so für den Augenblick unbrauchbar. Nachdem die Dokumente ausgetauscht worden waren, sagte der Franzose dem Engländer knapp, er solle den Wagen stehenlassen und zum Haus hinaufgehen. »Sie können mich mal«, erwiderte Lennox nur. Er ging hinaus, stieg in den Wagen und fuhr durchs Tor auf das Haus zu. Als Lennox das Gartenhaus verlassen hatte, griff Moreau zu einem Telefon an der Wand, wohl um den Obersten anzurufen. Als Lennox langsam eine lange, geschwungene Auffahrt hinauffuhr, sah er, wie vernachlässigt das Anwesen war. Nasses Buschwerk, das im Scheinwerferlicht glänzte, war auf den Weg hinausgewuchert und an einigen Stellen fast zusammengewachsen, so daß der Wagen auf der Fahrt zu Lasalles Zufluchtsort das Gestrüpp streifte. Das Bauernhaus, ein langes, zweigeschossiges Gebäude, das hinter einer Biegung auftauchte, befand sich in einem ähnlich schlechten Zustand. Es war lange nicht gestrichen worden, Dachziegel fehlten. Es sah kaum bewohnbar aus. Geldmangel, vermutete Lennox: Geflüchtete Obersten sitzen selten auf fetten Banknoten.
Oberst René Lasalle begrüßte ihn an der Eingangstür. Der Franzose verschloß und verriegelte die schwere Tür, bevor er seinem Gast in ein großes, mit altmodischen Möbeln überladenes Wohnzimmer voranging. In der Halle hatte Lennox an der Tür neue, moderne Sicherheitsschlösser bemerkt. Der Oberst war in Deutschland zwar theoretisch sicher, hatte sich aber in einer kleinen Festung verbarrikadiert.
»Sie werden eines Tages kommen, um mich zu holen«, bemerkte Lasalle kurz. »Schäbige, kleine, korsische Banditen mit Messern im Gürtel. Vielleicht werden sie versuchen, mich zu entführen - vielleicht werden sie kommen, um mich zu töten. Aber sie werden kommen.«
Der einarmige Oberst, dessen linker Ärmel wie der gebrochene Flügel eines Vogels flatterte, war klein und zierlich. Als er von einem Buffet Drinks holte, bewegte er sich mit elastischen Schritten. Lennox gewann augenblicklich den Eindruck von gewaltiger Energie, einer willensstarken Persönlichkeit, die wohl jede beliebige Gruppe von Menschen, der sie angehörte, beherrschen würde. Der fünfundfünfzigjährige Lasalle hatte scharfe, hagere Gesichtszüge und große, ruhelose Augen. Sein dünner Schnurrbart war kaum mehr als ein Strich. Er hatte noch immer volles, dunkles Haar. Sein auffälligstes Merkmal war seine Hakennase. In gewisser Weise erinnerte er Lennox an eine Miniaturausgabe von Charles de Gaulle. Der Oberst reichte ihm eine gutgefüllte Cognactulpe und hob sein Glas.
»Auf die Vernichtung von Frankreichs Feinden!«
»Darauf trinke ich mit …« Lennox behielt den Obersten sorgfältig im Auge. »Wer immer sie sein mögen.«
»Die sowjetische Clique in Paris - angeführt vom Leoparden.
Aber zuerst muß ich etwas über Sie erfahren, über Ihre Vergangenheit, Ihren Hintergrund …«
Fünfzehn Minuten lang verhörte er den Engländer nach allen
Regeln der Kunst. Es war die ausgeklügeltste und durchdringendste Vernehmung, die Lennox je erlebt hatte. Der Franzose stellte Fangfragen, bohrte nach, sprang mit den Fragen vor und zurück, wobei er die Daten aus Lennox’ Leben in sich aufnahm... und immer weiter vordrang. »Sie haben Marc Grelle kennengelernt?« fragte er zu einem Zeitpunkt. »Dann sind
Weitere Kostenlose Bücher