Nullzeit
verließ.
Grelle betrat das Botschaftsgebäude und trug sich ins Gästebuch ein. Anschließend ging er die Treppe hinauf, wo ihm ein Mädchen mit texanischem Akzent den Regenmantel abnahm. »Ich bin einmal in Dallas gewesen«, sagte er zu dem Mädchen, »an dem Tag, an dem Präsident Kennedy ermordet wurde.« Er betrat den großen Saal mit den Fenstern zum Place de la Concorde, in dem der Empfang gegeben wurde. Stimmengewirr und blendendes Licht erfüllten den Raum. Man hatte die Vorhänge zugezogen, wohl um den Raum gegen die aufdringliche Kameralinse in dem Berliet-Laster abzuschirmen. Grelle hielt sich am Rand der Menschenmenge, orientierte sich und achtete darauf, wer anwesend war.
»Inzwischen muß Ihr Computergehirn wohl alle Gäste registriert haben«, meinte eine Stimme hinter ihm, »warum gehen wir also nicht in die Bibliothek, wo die wirklich guten Sachen stehen?« David Nash grinste und gab dem Präfekten die Hand, als dieser sich umdrehte. »Ich mußte ohnehin nach Paris, also…«
»Dachten Sie, wir könnten ein bißchen plaudern? Oder sind Sie nur nach Paris gekommen, um mich zu sprechen?« fragte Grelle auf englisch.
»Sie mit Ihrem Polizistengehirn!« Nash ging vor, verließ den Empfangssaal, überquerte den Korridor und betrat einen Raum mit Bücherwänden. Er schloß die Tür und drehte den Schlüssel herum, der bereits auf der Innenseite steckte. »Jetzt bleiben wir ungestört …« Nash goß einen großen Scotch ein und reichte dem Präfekten das Glas. Er führte ihn zu einem Lehnsessel und setzte sich auf die Lehne eines anderen Sessels. Er hob sein Glas. »Auf Frankreich. Möge es ewig leben, einschließlich der nächsten zwei Monate …«
»Warum sollte es nicht?« Grelle betrachtete den Amerikaner über den Rand seines Glases hinweg. »Oder ist das ein Staatsgeheimnis? Ich nehme an, daß Sie noch immer denselben Posten haben wie bei unserer letzten Begegnung?«
»Denselben Posten.« Nash beugte sich vor und sprach mit leiser Stimme weiter. »Ich komme als Freund und nicht als Beauftragter meiner Regierung. Auch als Freund Frankreichs. Marc, haben Sie jemals vom Leoparden gehört?«
Grelle war sich bewußt, daß Nash ihn fixierte; er nippte ruhig an seinem Scotch und verzog keine Miene. Er wischte sich die Lippen mit einem seidenen Taschentuch ab, bevor er antwortete. »Vom Leoparden? Das ist ein Tier mit geflecktem Fell, das gefährlich sein kann …«
»Dieser Leopard ist gefährlich«, stimmte der Amerikaner zu. »Er sitzt an einem Schreibtisch der Regierung, keine zwei Kilometer von hier entfernt. Ich muß Ihnen eine Geschichte erzählen …« Nash erzählte die Geschichte gut - von einem russischen Überläufer, der erst vor einer Woche in New York angekommen sei, den man vom Kennedy Airport sofort zu einem geheimen Lager in den Adirondacks gefahren habe, wo er - Nash - den Mann persönlich vernommen habe. Am folgenden Morgen - noch bevor die Vernehmung habe zu Ende geführt werden können - sei der Russe von einem Heckenschützen erschossen worden, der ein Gewehr mit Zielfernrohr gehabt habe. »Es passierte, als ich neben ihm ging«, fuhr der Amerikaner fort. »Erst ging er neben mir, und im nächsten Moment lag er mit einer Kugel im Schädel auf der Straße …«
Grelle nippte weiter an seinem Scotch und hörte mit demselben ausdruckslosen Gesicht zu, als der Amerikaner berichtete, wie der hochgestellte Russe ihm von einem französischen Agenten der Kommunisten erzählt habe - der unter dem Namen des Résistance-Führers Leopard operiere. Dieser Mann habe sich mehr als dreißig Jahre lang emporgearbeitet und sei jetzt einer der drei führenden Männer Frankreichs. »Jeder ihrer wichtigsten Minister könnte der Leopard sein«, schloß Nash. »Roger Danchin, Alain Blanc …«
Grelle trank den Rest seines Whiskys mit zwei Schlucken aus, stellte das leere Glas auf den Tisch und erhob sich. Seine Stimme war klar und kühl. »Die amerikanische Regierung ist in jüngster Zeit schon absurd weit gegangen, um unseren Präsidenten zu diffamieren, aber was Sie jetzt unterstellen, ist unglaublich …«
Nash erhob sich aus seinem Stuhl. »Marc, Sie brauchen nicht aus der Haut zu fahren …«
»Ihre sogenannte Geschichte ist von Anfang bis Ende ein einziges Lügengewebe«, fuhr Grelle eisig fort. »Sie versuchen offensichtlich, ein erlogenes Gerücht zu verbreiten, in der Hoffnung, es möge unserem Präsidenten schaden, nur weil Ihnen seine Reden nicht gefallen
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