Nullzeit
die Geheimdienstbeamten der französischen Botschaft in Bonn. Sie konnten bislang kaum etwas von ihm wissen, aber der Vize des BND war ihnen dafür ein um so bekannteres Beobachtungsziel. Als der Expreßzug allmählich schneller wurde, nahm Lennox seinen Koffer und ging zu dem geräumigen Waschraum.
Der Mann, der ihn betrat, war der Engländer Alan Lennox. Der Mann, der zehn Minuten später heraustrat, war der Franzose Jean Bouvier. Lennox setzte sich wieder in sein leeres Abteil. Er trug jetzt französische Kleidung und rauchte eine Gitane. Er trug jetzt auch den Hut, den er in Metz gekauft hatte, sowie eine Hornbrille. Normalerweise trug Lennox keinen Hut, aber er wußte, wie eine Kopfbedeckung die Erscheinung eines Mannes verändern kann. Als der Zugschaffner wenige Minuten später kam und Lennox einen TEE-Zuschlag bezahlen mußte, unterhielt er sich mit dem Schaffner auf französisch und mit einigen Brocken Deutsch.
Als der Expreß Freiburg erreichte, den letzten Aufenthalt vor der Schweizer Grenze, zögerte Lennox einen kurzen Moment. Einer der drei Männer auf der Zeugenliste Lasalles - Dieter Wohl - lebte in Freiburg. Lennox zuckte die Achseln wie ein Franzose und blieb in seinem Abteil sitzen. Im Augenblick war nur wichtig, aus Deutschland herauszukommen und die Spuren zu verwischen; Freiburg lag in unmittelbarer Nähe des Elsaß jenseits des Rheins. Wohl konnte er später aufsuchen, nachdem er die beiden Franzosen gesprochen hatte. Pünktlich um 15.36 Uhr hielt der TEE Rheingold im Basler Bundesbahnhof, wo Lennox ausstieg. Jetzt war er in der Schweiz.
Er verließ den Bahnhof, überquerte die Straße und betrat das Hotel Victoria, in dem er sich für nur eine Nacht ein Zimmer nahm. Danach hatte er noch genügend Zeit, das richtige Geschäft zu finden, um sich einen zweiten Koffer zu kaufen. Er nahm diesen neuen Koffer mit ins Hotel, packte um und legte seine britischen Kleidungsstücke in den alten Koffer; die in Metz gekauften französischen Kleider - alle bis auf die, die er trug - stopfte er in den Schweizer Koffer, den er gerade erstanden hatte. Er verließ das Hotel mit dem britischen Koffer und ging zum Bahnhof, wo er ihn in einem Schließfach deponierte. Als er abschloß, war ihm eines bewußt: Es war keineswegs sicher, daß er diesen Koffer je wiedersehen würde.
Grelle erschien zu spät zu der festgesetzten Exhumierung der Leiche des Leoparden. Er steckte mitten in drei zeitraubenden Aufgaben - er untersuchte den Attentatsversuch auf den Präsidenten, widmete sich dem Rätsel der Identität des Leoparden und bemühte sich, die Sicherheitsvorkehrungen zu Guy Florians Schutz zu vervollkommnen - und brauchte jede Minute, die der Arbeitstag ihm ließ. Schon jetzt mußte er mit vier Stunden Schlaf pro Nacht auskommen - das Schlafdefizit versuchte er mit kurzen Schläfchen auszugleichen, wo immer sich die Gelegenheit bot, im Wagen, im Flugzeug, sogar im Büro, wenn sich zwischen zwei Gesprächen eine Möglichkeit ergab.
Boisseau saß hinter dem Lenkrad des Wagens. Grelle döste, als sie von der Hauptstraße abbogen und auf einem verschlammten Weg in den Wald hineinfuhren. An der kaum erkennbaren Abzweigung hatte ihnen ein Gendarm mit einer Taschenlampe einen Wink gegeben. Sie hätten die Abzweigung sonst unweigerlich verfehlt. Es war schon längst dunkel geworden - die Exhumierung war für den späten Abend angesetzt worden, um die Geheimhaltung zu sichern. Es goß in Strömen, und im Scheinwerferlicht tauchten plötzlich zwei große Wasserlachen auf dem ausgefahrenen Waldweg auf. Der Präfekt öffnete die Augen. »Wenn das noch lange weitergeht«, brummte er, »steht bald ganz Frankreich unter Wasser …«
Sie fuhren durch einen Fichtenwald. Die Scheinwerfer erfaßten einen Palisadenzaun nasser Baumstämme, als der Wagen über die kurvenreiche Strecke dahinfuhr. Die Reifen rutschten auf dem Schlamm, und der Regen prasselte auf das Wagendach.
Etwa zwei Kilometer nach der Abzweigung auf dem Waldweg nahm Boisseau eine scharfe Kurve, und plötzlich erleuchteten die Scheinwerfer in dem strömenden Regen eine seltsame Szene. Bogenlampen erhellten den Schauplatz der Grabung. Die Grabstätte wurde durch ein Zeltdach vor dem Regen geschützt. Daneben lagen frisch aufgeworfene Erdhaufen. Männer mit Schaufeln standen bis zu den Schultern im Grab und hoben noch immer Klumpen lehmiger Erde aus. Durch das Wischerfeld der Windschutzscheibe sah Grelle, daß sie sich auf einer großen Lichtung
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