Nummer Drei: Thriller (German Edition)
North Fork. Dad hatte, was selten vorkam, das ganze Wochenende frei. Ich war sechs oder sieben und hatte die Windpocken. Deshalb war ich die meiste Zeit im Pool hinter dem Haus und schwamm. Im Wasser ließ der Juckreiz für eine Weile etwas nach. Dad verbrachte seine freie Zeit vorwiegend am Grill. So sehe ich ihn immer noch vor mir – wie er sich über den Grill beugt, wie zwischen den zischenden Fleischstücken die Flammen züngeln. Es gab auch Fisch, den er auf dem Fischmarkt in Southold gekauft hatte.
Ich hielt mich im flachen Bereich des Pools auf. Ich schwamm zwar nicht, aber ich wollte auch nicht hinaus und spielte im Wasser. Dann entdeckte ich etwas Erstaunliches. Wenn ich den Atem anhielt und untertauchte, konnte ich durch das Wasser den Himmel betrachten. Das Blau und die flauschigen Wolken schimmerten und tanzten, wenn ich sie durch die Linse des Wassers ansah. Es war unglaublich – das grelle Sonnenlicht auf dem Wasser, das Funkeln, das Beben und Pulsieren des Himmels.
Also drehte ich mich auf den Rücken, hielt den Atem an und ließ mich schlaff hängen, sodass ich knapp unter der Wasseroberfläche schwebte und nach oben blickte. Ich konnte den Atem ziemlich lange anhalten und deshalb eine ganze Weile so verharren, ehe ich den Bann brechen und wieder auftauchen musste.
Auf einmal schien mich eine Eisenklammer am Arm zu packen. Ich wurde aus dem Wasser gerissen und auf die harten Fliesen geworfen wie ein gefangener Fisch. Ich schrie, als meine Mom sich über mich beugte und mir die Finger in den Mund steckte.
»Mom!«, rief ich.
»Oh, Amy, d u …«
Dann gab sie mir eine Ohrfeige. Es war das erste und einzige Mal, dass sie mich schlug. Ich konnte es nicht fassen. Ich lag auf den feuchten, heißen Fliesen, die den Pool umgaben, und starrte zu ihr hinauf. Sie trug ein blaues Sommerkleid mit gelbem Blumenmuster. Erst jetzt sah ich, dass es klatschnass war. Ihre Augen waren geweitet, voller Angst und auch für mich erschreckend, Tränen rannen ihr über das Gesicht.
»Was habe ich den n …«, begann ich.
»Ich dachte, du seist tot!«, kreischte sie. So habe ich noch nie jemanden schreien hören. Ihre Stimme klang nicht menschlich, sondern wie die eines Tiers. Hinter ihr kam Dad angerannt, wie immer zu spät. »Ich dachte, du seist ertrunken!«, schrie sie.
»Oh«, antwortete ich.
Mehr fiel mir nicht ein. Obwohl ich so klein war, erkannte ich, wie dumm ich gewesen war und warum meine Mom solche Angst gehabt hatte. Schreckliche Gewissensbisse blühten in mir zu einer dunklen Nachtblume auf, die mir seitdem keine Ruhe mehr lassen.
Ich bin schuld, dachte ich. Sie weint meinetwegen. Ich bin schuld.
Dann hob sie mich hoch und umarmte mich. Das schmerzte wegen der Windpocken, aber ich wehrte mich nicht. Ich ließ mich von ihr festhalten, während sie schluchzte.
»Oh, meine Amy!«, stieß sie hervor. »Oh, meine Amy!« Sie wiederholte die Worte wie ein Gebet, das mich am Leben erhalten sollte.
Ich betrachtete unterdessen den Himmel. Ich habe nicht darüber nachgedacht, wollte ich ihr versichern. Ich wollte dir keinen Schrecken einjagen.
Später, als ich älter wurde, erinnerte ich mich oft an jenen Moment, den ich im Nachhinein unerträglich fand. Diesen Gesichtsausdruck wollte ich bei meiner Mutter nie wieder sehen. Und dazu das Schamgefühl. Es war auch peinlich, irgendwie schüttelte es mich innerlich so, wie wenn man die eigenen Eltern beim Sex erwischt. Es lag wohl daran, dass ich etwas sehr Persönliches beobachten konnte. Etwas Intimes, das ich nicht hätte sehen sollen. Ich erkannte, wie sehr meine Mutter mich liebte, und das weckte in mir eine unermessliche Angst.
Wird es auch für mich so sein?, fragte ich mich wohl tausendmal. Werde ich meine Kinder auch so sehr lieben? Wird es mir genauso wehtun, wenn einem von ihnen etwas zustöß t ? Wenn Eltern so große Angst ausstehen mussten, ließ ich es wohl besser ganz bleiben.
Nachdem sie sich umgebracht hatte, dachte ich noch viel öfter an diesen Sommer und an den Tag, als Mom mich nass und spuckend aus dem Pool gezogen hatte.
Wenn dir die Vorstellung, ich könnte ertrinken, so wehgetan hat, dachte ich, warum hast du es dann überhaupt getan? Warum hast du mich alleingelassen?
Als ich wieder zu mir komme, ist ringsum auf dem Deck der HMS Endeavour einiges los. Jemand zieht mich hoch, bis ich sitze und an der Wand lehne. Ich erkenne Meer und Himmel, die am Horizont ineinander übergehen. Vor dem inneren Auge sehe ich immer noch Farouz,
Weitere Kostenlose Bücher