Nummer Drei: Thriller (German Edition)
Scharnieren, das sie rings um das Pferd aufstellten. Die Leute auf der Tribüne sahen nichts mehr. Nur wir konnten alles beobachten.
Trotzdem gingen wir nicht. Wir tranken keinen Champagner mehr und aßen nichts, aber wir brachen auch nicht auf. Ein Ansager entschuldigte sich über Lautsprecher für die Unterbrechung und sagte, man habe den einzigen Tierarzt gerufen, der am Sonntag Rufbereitschaft habe.
»Ist denn kein Tierarzt anwesend?«, fragte mein Dad ungläubig.
Ich sah auf meine Chanel-Uhr. Eine ganze Stunde verging, bis ein Landrover auftauchte, der das Abzeichen einer Tierklinik aus Reigate trug. Er fuhr direkt auf das Spielfeld. Ein Mann mit einer Ledertasche stieg aus und ging zu dem Pferd, kniete daneben nieder, betastete den Hals und zog dem Tier die Augenlider hoch.
Auf einmal bemerkte ich, wie jung der Polospieler war. Es fiel mir vor allem deshalb auf, weil ein anderer Mann, der aussah wie er, aber älter war, mit einem Mercedes eintraf und knapp vor dem Sichtschutz bei ihm stehen blieb. Er nahm den Jungen, dessen Pferd gestürzt war, in die Arme. Sein Dad, dachte ich.
Der Tierarzt richtete sich wieder auf und trat auf die beiden zu. Ein paar Minuten lang redete er mit dem Spieler, dann umarmte der Vater seinen Sohn noch einmal und noch inniger. Ich schien ein Schauspiel zu verfolgen, das weit entfernt aufgeführt wurde, sodass ich die Dialoge nicht mehr hörte, aber trotzdem begriff, was vor sich ging. Oder jedenfalls das Wichtigste mitbekam.
Ich blickte zu Sarah hinüber. Sie weinte. In dem Augenblick beschloss ich, sie zu hassen. Ich weiß, es war unfair. Ich meine, es ging doch nur um ein Pferd. Meine Mutter war tot, Sarah nahm ihre Stelle ein und weinte wegen eines Pferds.
Der Tierarzt kehrte zu seiner Tasche zurück, holte eine Spritze hervor, die wie in einem Comic viel zu groß war, und gab dem Tier eine Injektion, damit es starb.
Endlich war der Bann gebrochen.
Dad stand auf und packte wortlos die Picknicksachen zusammen. Sarah half ihm. Dann gingen wir nach Hause.
Als wir an dem alten Herrensitz Ham House vorbeikamen, begegneten wir auf dem Fußweg einem blonden Mädchen. Sie trug eine Reithose, hatte einen Reithelm in der Hand und fragte uns, was die ganze Aufregung zu bedeuten habe. Wir erzählten ihr von dem Pferd, das gestürzt war und sich das Genick gebrochen hatte.
»Wer war es?«, fragte sie sehr besorgt. »Ich meine, der Reiter.«
Wir beschrieben ihn – dunkles lockiges Haar, ziemlich groß.
»O nein, der arme Henry!«, rief sie. Ihr Tonfall machte allerdings deutlich, dass es ihr überhaupt nicht leidtat. Dazu war sie viel zu munter. »Furchtbar. Mein erster Zosse ist genauso krepiert.«
Als wir uns entfernten, schnaubten Dad und ich im gleichen Moment.
»Zosse«, sagte er. »Mein Gott.«
»Was denn?«, fragte Sarah. »Ich finde es tragisch.«
Mir entging nicht, dass Dad die Augen verdrehte. Es war nämlich überhaupt nicht tragisch. Ich begriff es, Dad begriff es, und wenn Mom noch da gewesen wäre, hätte sie es ebenfalls begriffen. Es war unangenehm und unschön, es war schmerzlich anzusehen, und mir taten das Pferd und der Reiter leid. Tragisch war es aber nicht.
In diesem Moment wurde mir klar, dass Sarah, selbst wenn sie die Stiefmutter werden sollte, niemals wirklich zur Familie gehören würde.
12 »Die Armbanduhr meiner Tochter«, erklärte Dad. »Man hat sie ihr noch nicht zurückgegeben.«
Das war am nächsten Tag.
Wir sechs hatten im Kino auf Sofas, Lehnstühlen und behelfsmäßigen Betten aus Kissen eine weitere ungemütliche Nacht verbracht. Tony sah etwas besser aus. Die Stiefmutter hatte anscheinend einen Erste-Hilfe-Kurs absolviert und war nun doch nicht völlig nutzlos. Sie hatte die Wunde mit Jod desinfiziert, einen frischen Verband angelegt und ihm ein Schmerzmittel gegeben. »Codein«, hatte Dad erklärt. »Extra stark.« Sekunden später war Tony eingeschlafen.
Jetzt standen wir auf dem Deck. Es war nicht mehr ganz so heiß, weil Damian auf der Brücke war und die Maschine gestartet hatte. Wir waren nach Eyl unterwegs und bekamen dank des Fahrtwinds eine kühlende Brise ab. Ich war erleichtert, dass es nicht mehr so brüllend heiß war, obwohl die Sonne die fernen Wellenkämme immer noch mit hüpfenden grellen Diamanten überzog. Die Schaumkronen veränderten sich unentwegt, und ich gewann den Eindruck, das Meer, das in Wirklichkeit eher träge schwappte, rase mit ungeheurer Geschwindigkeit an uns vorbei.
Das Licht ist so schnell, dass
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