Nummer Drei: Thriller (German Edition)
zuhören wollte. Es war angenehm, mit jemandem zu reden, der ungefähr in meinem Alter und nicht mein Dad, Damian oder die Stiefmutter war. Auf einmal wurde mir bewusst, wie einsam ich auf der Reise gewesen war. Ich hatte Musik gehört und war immer allein gewesen.
»Gut.« Er fuhr fort.
» › Es gibt nichts Schlimmeres als die Dürre ‹ , antwortete ein Stammesmitglied demjenigen, der meinte, sie sollten das Himmelskamel nicht essen. › Bald wird es keinen Stamm mehr geben, und was nutzt es dann, die heiligen Dinge zu ehren? Es ist besser, wir essen sie und überleben. ‹ Am nächsten Tag zog der ganze Stamm – vielmehr diejenigen, die noch lebten – zu den Al-Mado-Bergen. Dort bildeten sie einen riesigen Turm aus Menschen, bis sie den Himmel erreichten. Alle Stammesmitglieder bis auf den letzten Mann beteiligten sich an dem Turm. Der Mann, der ganz oben stand, stellte schließlich fest, dass er das Dach der Welt und die Sterne berühren konnte. Der Nachthimmel war kalt, und die Menschen im Turm zitterten, als ihnen der Wind durch die Kleider fuhr. Das Kamel in den Sternen hockte an seinem gewohnten Platz. Der Mann auf dem Turm streckte sich und packte den Schwanz des Kamels. › Ich habe es! ‹ , rief er hinab.
› Er hat es! ‹ , riefen die anderen, bis auch die Menschen ganz unten auf dem Berg wussten, dass das Kamel gefangen war.
In diesem Moment fiel aber jemandem weiter unten ein, dass er seinen Korb daheim vergessen hatte. Da er kein Behältnis hatte, konnte er sein Stück Fleisch nicht nach Hause zu seiner Familie tragen. Rasch verließ er seinen Platz und stieg den Turm hinunter.
Das war ein Fehler, denn sobald er fort war, geriet der Turm ins Schwanken und brach schließlich zusammen. Alle, die darin steckten, fielen übereinander, überschlugen sich und stürzten die Berge hinunter. Der Mann ganz oben war verzweifelt. Er zog die Machete und schlug auf den Schwanz ein, weil er dachte, er könne wenigstens dieses eine Stück mitnehmen. Das Kamel spürte es natürlich, brüllte und rannte los. Dabei riss der Schwanz vollends ab.«
Ich schauderte, als ich Farouz zuhörte. In meinem Kopf stürzte nicht der Stamm hinunter, sondern meine Mutter, sie raste hinab durch die Schwärze, während über ihr die Sterne standen. In der Schule wurde im Religionsunterricht immer wieder über den Sündenfall gesprochen, und so stellte es sich auch für mich dar, wenn ich an meine Mutter dachte. Es war der Sündenfall. Das Ereignis. Der Sturz in die Verdammnis.
»Alles in Ordnung?«, fragte Farouz.
»Ja«, antwortete ich. »Mir ist nur kalt.«
Es war wirklich kalt. Nach Sonnenuntergang kühlte die Luft erstaunlich rasch ab.
Farouz nickte, zog die Jacke aus und legte sie mir beinahe abwesend über die Schultern – oder er wandte den Blick bewusst ab, damit die Situation nicht zu vertraut und peinlich wurde.
»Aber die Leute unter dem obersten Mann waren fort«, erzählte Farouz. »Also stürzte er auch hinab, hielt dabei aber den Schwanz fest. Manche Leute sagen, er stürzt immer noch und hält den Schwanz fest, weil er so weit oben war, als der Sturz begann.«
Farouz deutete mit der Zigarette, die er sich gerade angezündet hatte, auf das Kamel.
»Deshalb hat das Kamel keinen Schwanz«, schloss er.
Er stand auf, als wolle er gehen, doch bevor er die Tür erreichte, wandte er sich um und hielt mir etwas hin. Es funkelte im Mondlicht und im Sternenlicht, und einen verrückten Augenblick lang dachte ich, er wolle mir einen Stern schenken. Aber dann kam er wieder näher, und ich erkannte meine Chanel-Uhr.
»Hier«, sagte er.
Ich nahm die Uhr, und dabei berührten sich unsere Finger. So etwas geschieht immer wieder im Alltag – wenn man das Wechselgeld für den Kaffee entgegennimmt, wenn man an der Garderobe den Mantel abholt. Aber dieses Mal war es anders. Es war, als hätten unsere Körper miteinander gesprochen.
Farouz berührte meine Hand, genau wie es andere Menschen manchmal taten. Doch es war auf gleiche Weise ähnlich, wie Wasser und Wodka äußerlich nicht zu unterscheiden sind, während beide Getränke ganz anders wirken, wenn man davon kostet.
Ich stand einen Moment lang wie vor den Kopf geschlagen da.
»Wie hast d u …«, setzte ich an.
»Das spielt keine Rolle. Aber trag sie nicht und lass sie Mohammed nicht sehen. Er is t … seine Familie hat viel Macht. Er wäre gern anstelle von Ahmed der Boss. Wir müssen vorsichtig sein. Du solltest sie verstecken.«
»Gut, ich verstecke sie«,
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