Nummer Drei: Thriller (German Edition)
gewollt hätte. Er betrachtete die Waffe und sah mir wieder in die Augen. Dann lächelte er, und ich wusste nicht, was dieses Lächeln zu bedeuten hatte. Ob ihn meine kleine Phantasie belustigte oder ob er mir zu verstehen gab, dass ich keine Chance hatte und tot wäre, ehe ich die Waffe überhaupt in der Hand hielt. Um nicht völlig durchzudrehen, entschied ich mich für die erste Variante.
»Alle unsere Geschichten drehen sich um den Hunger«, erklärte er.
»Oh, ach so«, lenkte ich ein. »Warum?« Ich wollte immer noch hineingehen, aber er hatte etwas an sich, diese Besonnenheit, mit der er sprach, und ich blieb.
»Das Land ist eine Wüste«, erklärte er. »Hier gab es immer Hungersnöte.«
»Verstehe«, erwiderte ich. »Und deshalb hat jemand dem Kamel am Himmel den Schwanz abgerissen.« Ich wusste, es klang sarkastisch, und ich schämte mich für meine Worte. Hungersnöte sind wirklich kein Grund zum Scherzen. Es war nur so, dass er seine Worte mit diesem übertrieben korrekten Englisch aussprach, als wären sie nichts weiter als der Hintergrundkommentar eines Dokumentarfilms. Hungersnöte gab es schon immer – einfach so, alles klar.
»Ganz so einfach ist es nicht«, fuhr er fort. »Soll ich es dir wirklich erklären?«
Nein, wollte ich sagen. Nein, du sollst mich in Ruhe lassen. Aber er war so überraschend sanft, und ich hatte sowieso nichts Besseres vor.
»Ä h … ja, gut«, willigte ich ein.
»Schön«, begann er. »Das Himmelskamel.« Wieder deutete er auf das Sternbild. »Der Warsangalistamm war daran schuld. Es gab eine schreckliche Hungersnot, und Kinder und auch alte Menschen starben. So etwas geschah immer wieder, aber diese Hungersnot war besonders schlimm. Es gab sehr, sehr lange keinen Regen. Das Vieh verendete. Die Männer jagten Hyänen und aßen sie. Ich weiß nicht, o b … Gibt es in deinem Land ein Tier, das als schmutzig gilt und nicht gegessen wird?«
»Manche Leute essen kein Schwein.«
»Ich esse kein Schwein. Ich bin Moslem, verstehst du? Aber die Hyänen, die sind viel schlimmer. Schweine sind nur Schweine, du bist ihnen gleichgültig. Wir essen sie nicht, weil Allah es verbietet. Aber Hyänen sind grausame Tiere. Wir geben ihnen alle möglichen Namen: Nachtgänger, Leichenfresser, die Heimtückischen, die Kinderdiebe.«
»Kinderdiebe?«
»Ja. Manchmal haben sie nachts Kinder angegriffen, die allein waren.«
»Oh«, machte ich.
Ich fragte mich, wie es sich wohl an einem Ort lebte, an dem es tödliche Tiere gab. Bisher hatte ich noch nie ernsthaft darüber nachgedacht.
»Das war bestimmt schrecklich«, gab ich zu. »Aber ist das nicht schon lange her? Ist es inzwischen nicht sicherer geworden?«
Er starrte mich lange schweigend an und runzelte die Stirn. Ich wusste nicht, wohin ich blicken sollte, und war verlegen, ohne den Grund dafür zu kennen. Inzwischen weiß ich, was sein Schweigen zu bedeuten hatte, aber er sprach es nicht aus. Jedenfalls nicht in jenem Augenblick. Er sagte nur, nach dem Verschwinden der meisten Hyänen seien andere Wesen in Erscheinung getreten, die den Menschen die Kinder wegnehmen konnten.
Andere Menschen.
Erst da sah ich ihn unwillkürlich wieder an, und er lenkte meinen Blick erneut nach oben zu dem Kamel am Nachthimmel.
»Die Menschen haben die Hyänen gegessen«, fuhr er fort, »und wenn du aus dieser Gegend stammen würdest, wüsstest du, wie nahe sie am Verhungern waren. Auf den Beirdabäumen wuchsen keine Früchte mehr. Hungrige Eltern aßen ihre toten Kinder. Schließlich hielten die Warsangali eine Versammlung ab und baten um Vorschläge, wie man den Stamm retten könne. Ein alter Mann erhob sich und sagte, sie hätten das ganze Vieh, die Zebras und die Hyänen aufgegessen. Es gebe aber Tiere, die sie noch nicht angerührt hätten – die Tiere, die am Himmel lebten wie das große Kamel. › Doch die Sternbilder sind heilig ‹ , wandte ein anderer ein. › Wenn wir das Himmelskamel essen, dann suchen uns noch schlimmere Plagen als eine Dürre heim. ‹ «
Farouz machte eine anmutige Geste, die mir wohl zeigen sollte, wie heilig und unantastbar die Sterne waren. Auch seine Gesten waren ungewohnt – sein Körper sprach eine Fremdsprache. Er bewegte sich in einem anderen Dialekt, und manchmal formulierte er ein Wort mit dem Mund und ein ganz anderes mit den Händen, was mir seltsam vorkam.
»Hörst du noch zu?«, fragte Farouz.
»O ja. Entschuldige«, sagte ich.
Es tat mir wirklich leid, weil ich zuhörte oder jedenfalls
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