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Nun ruhe sanft und schlaf in Frieden

Nun ruhe sanft und schlaf in Frieden

Titel: Nun ruhe sanft und schlaf in Frieden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Seeber
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beklagen? Sie wussten ja nicht, dass ich mich Tag für Tag ein wenig mehr hasste.
    Gar sah engelsgleich aus in ihrem grünen Morgenmantel, so zart wie eine fedrige Puderquaste, die gleich wegfliegen würde. Ihr weiches Haar war zu einem Knoten zusammengedreht, der im schwachen Licht des Raumes sanft schimmerte. Jemand hatte ihr das Radio eingeschaltet, und sie war zu den Klängen eines Strauß-Walzers eingenickt. Der Tee in ihrer Tasse war schon kalt und trüb. Ich wollte sie nicht wecken. Es hätte ohnehin keinen Sinn gehabt. Gar war auf dem besten Weg, den Verstand zu verlieren. Das war die schreckliche Wahrheit. Eine Alzheimer-Erkrankung hatte ihre Krallen fest in ihr Gehirn geschlagen. Es war keine Besserung in Sicht.
    Ich hielt ihre Hand, während sie schlief. Ihre Hand mit den zahlreichen Runzeln war so leicht geworden. Mein Blick glitt über die Familienfotos an der Wand: ich als Baby mit nur einem Zahn; ich als dickes Kleinkind mit pinkfarbenem Hut am Strand von Cornwall; ich als Fünfjährige in den kräftigen, sommersprossigen Armen meiner Mutter - fast dünn jetzt, nur mit einem winzigen Ansatz Babyspeck am Bauch, das Haar meiner Mutter leuchtete ebenso rot wie meines, meine Mutter strahlte mich an, mein Vater stand stolz hinter uns, sehr groß und schmal, bevor er anfing, in sich zusammenzusinken. Bevor die Trauer ihn beugte.
    Susan steckte den Kopf ins Zimmer.
    »Mögen Sie einen Tee, Kleines?«
    »Ein Whisky wäre mir lieber«, gab ich scherzhaft zurück.
    »Vera hat Sherry im Schrank, glaube ich.« Susan musste zweimal hinsehen. »Oh, Sie haben Ihr Haar abschneiden lassen. Das ist mir vorhin unter der Mütze gar nicht aufgefallen. Sehr hübsch. Jetzt sehen Sie ein bisschen aus wie Twiggy. So große Augen.« Sie schnäuzte sich die rote Nase. »Nur war Twiggy natürlich blond.«
    »Danke.« Unbehaglich strich ich mir über den bloßen Nacken. »Ich habe mich immer noch nicht daran gewöhnt. Ich dachte nur, es sei endlich mal Zeit für eine Veränderung.«
    »Veränderungen tun gut. Heißt es das nicht immer?« Susan nickte. »Ich bringe Ihnen den Tee.«
    Während ich wartete, überkam mich die Lust auf Sherry.
    Kurz bevor ich ging, erwachte Gar. »Haben Sie Haferbrei gegessen?«, fragte sie höflich. Ich wusste, dass sie sich nicht erinnerte, wer ich war. Ihre blauen, wässrigen Augen sahen zwar verwirrt drein, doch sie ließ zu, dass ich ihre Hand hielt. Immerhin etwas. Ich streichelte sie sanft und erzählte ihr von diesem und jenem.
    »Ich hole den Haferbrei, aber lassen Sie ihn nicht anbrennen«, murmelte meine Großmutter. Dann nickte sie wieder ein. Ich umarmte die zierliche Gestalt fest. Schließlich machte ich mich auf den Weg zurück zum Haus meines Vaters.
    In der Taxileitstelle sagte man mir, dass in der nächsten halben Stunde kein Taxi frei werden würde, also versuchte ich es mit dem Bus. Doch Busse gingen in dieser Gegend ohnehin schon recht selten, und nun war auch noch Sonntagabend. Also beschloss ich, zu Fuß über die Heide zu gehen. Hatte die Physiotherapeutin nicht gesagt, ich solle mir so viel Bewegung wie möglich verschaffen? Allerdings war ich im Moment ziemlich langsam.
    Als ich mitten auf der Heide stand, kam es mir auf einmal unendlich dunkel vor. Ein Windstoß scheuchte die Bäume auf. Weder Mond noch Sterne waren zu sehen, nur dunkle Wolken, die über den schwarzen Himmel trieben. Ich wehrte mich gegen das unangenehme Gefühl, konnte die Spannung aber nicht ganz vertreiben.
    Wie sehr ich mich auch bemühte, mich nicht umzudrehen: Es war sinnlos. Dauernd wanderte mein Blick über die Schulter zurück. Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass mir jemand folgte. Und doch war ich allein, wenn ich mich umdrehte. Ich summte ein fröhliches Liedchen vor mich hin, das ich mir gerade ausgedacht hatte, und wünschte mir sehnlichst, dass Digby hier wäre, um die Geister meiner Einbildungskraft mit seinem Bellen zu verscheuchen. Ich versuchte schneller zu gehen, doch mein Bein tat weh, und ich fing an zu humpeln.
    Im Dickicht am Teich hörte ich einen Fuchs heulen. Es hörte sich schlimm an, als würde ein Baby weinen. Ich erschrak ziemlich. Die Blätter raschelten im Wind. Dann fuhr ein Auto sehr schnell vorbei und blendete mich mit seinen Scheinwerfern. Ich stolperte auf der unebenen Grasnarbe und fiel hin. Als ich mich wieder aufgerichtet hatte, meinte ich, Stimmen zu hören, aber ich konnte nicht ausmachen, woher sie kamen. Also beschleunigte ich meinen Schritt, so gut ich

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