Nur 15 Sekunden
zwischen diesem Tag und dem Tag sieben Jahre später, 1952, als sie meinen Vater in Manhattan wiedertraf?So, wie sie es mir immer erzählt hatte, hatte ihr Leben in dem Moment begonnen, als sie einander in der überfüllten U-Bahn erkannten. Und nun all das: eine verzweifelte Flucht durch den Schnee, Schüsse, tote Freundinnen, die sie zurücklassen musste. Die ganze Zeit hatte sie Marta und Rosa in ihrem Gedächtnis bewahrt und nie von ihnen gesprochen, bis jetzt. Und was war aus Lara und Dolly geworden? So viele ungestellte Fragen begleiteten den Abschiedskuss, den ich meiner schlafenden Mutter auf die weiche, eingefallene Wange drückte.
Marta, Rosa, Lara und Dolly. Vier kleine Mädchen, deren Leben dem grausamen Gang der Geschichte zum Opfer gefallen war. Und doch lebten sie weiter, bis heute, verborgen in der Erinnerung meiner Mutter.
Angela und ich ließen meine Mutter schlafend im polnischen Wald zurück, im Winter 1945. Auf dem Weg zum Wagen wechselten wir kein Wort. Angela bog auf den West Side Highway ab und fuhr Richtung Innenstadt, Richtung Brooklyn. Ich brauchte nicht zu fragen, ob sie mich wirklich bis ganz nach Hause fahren wollte: Sie hatte schon so viel für mich getan, das würde sie jetzt auch zu Ende bringen.
Erst am südlichen Rand von Manhattan brachen wir unser Schweigen, gerade als wir an der klaffenden Lücke vorbeifuhren, wo das World Trade Center einmal gestanden hatte.
«Was glauben Sie, Angela? Ist es leichter, an einem belebten Ort unterzutauchen oder an einem abgelegenen, schwer erreichbaren?»
«Wenn er Sie auf einer einsamen Insel erwischt, Kindchen, dann sind Sie geliefert. Ich würde sagen, viele Menschen sind besser.»
«Das glaube ich auch. Wir sollten in eine große Stadt gehen.»
Aber in welche? Mir hatte der Gedanke gefallen, nach Europa zu gehen, ganz weit weg – aber wie sollte ich mit einer Schusswaffe über die Landesgrenze kommen? Wir würden wohl doch in den USA bleiben und ohne langfristige Pläne herumreisen müssen, damit Joe uns nicht aufspüren konnte. Wir würden uns verstecken, uns ganz altmodisch von allen virtuellen Verbindungen fernhalten, mit deren Hilfe er uns finden konnte: Bargeld, öffentliche Telefone, Internet. Wie Flüchtlinge. Ich würde Ben weismachen müssen, dass wir in ein Abenteuer starteten und nicht um unser Leben liefen.
Gleich morgen früh würden wir aufbrechen, nach neun, wenn die Banken öffneten und ich eine größere Menge Bargeld in Travellerschecks abheben konnte. Und heute Abend würde ich packen. Und mich von Rich verabschieden.
Der rote Minivan hielt vor meinem Haus in der Bergen Street. Es war fast vier; Ben musste längst zu Hause sein.
«Ich hoffe, Sie kommen auf dem Weg zurück nach Long Island nicht in den Stau.» Ich beugte mich vor und küsste Angela auf die Wange. «Vielen Dank für alles. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie viel mir das bedeutet.»
«Brauchen Sie auch nicht. Schreiben Sie uns mal eine Karte, ja?»
«Das mache ich.»
Sie wartete, bis ich im Haus war, und ich hörte den Wagen erst losfahren, als ich die Alarmanlage ausgeschaltet, hinter mir abgeschlossen und den Alarm wieder eingeschaltet hatte. Dann kam mir plötzlich der Gedanke: Wenn Ben schon zu Hause war, wieso war die Alarmanlage dann überhaupt eingeschaltet? Hatte er etwa tatsächlich daran gedacht, sie wieder anzustellen, sobald er im Haus war, wie ich ihm das eingeschärft hatte? Ich hatte nicht damit gerechnet,dass er sich so schnell an das neue Sicherheitsprogramm gewöhnen würde.
«Pass auf, Ben», hatte ich beim Frühstück zu ihm gesagt. «Es gibt neue Regeln.»
Sein milchtropfender Müslilöffel hielt auf halbem Weg zum Mund inne. Er schaute von dem Artikel auf, den er gerade gelesen hatte, und warf mir einen vernichtenden Blick zu. Immer musste ich ihn stören.
«Tut mir leid, Schätzchen, aber das ist jetzt wirklich wichtig. Hörst du mir zu?»
Er nickte, schob den Müslilöffel in den Mund und hielt den Blick auf mich gerichtet, weil er wusste, dass ich sowieso nicht lockerlassen würde, bis er sich alles angehört hatte.
«Sorg dafür, dass dein Handy immer aufgeladen und eingeschaltet ist und dass du es immer bei dir hast.»
Nicken.
«Geh nirgendwo alleine hin.»
Nicken.
«Geh nie einsame Straßen entlang, sondern bleib immer unter Menschen, selbst wenn das heißt, dass du einen Umweg machen musst.»
Nicken.
«Geh niemals ans Festnetztelefon.»
Nicken.
«Mach niemandem auf.»
Nicken.
«Und schalte immer die
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