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auffliegen lassen wollte, musste er mir auch Beweise verschaffen. Und so legte ich seine knappen Worte als Zusicherung aus, mir schriftliche Belege über den Grundstücksverkauf zukommen zu lassen.
Courtney und ich machten uns sofort an die Fortsetzung unseres Artikels. Der Herausgeber Matt Overly höchstpersönlich hatte beschlossen, den Folgeartikel gleich am nächstenTag zu bringen. Nach Elliots Aussage wurde Overly von Lokalpolitikern, mit denen er teilweise auch privat befreundet war, unter Druck gesetzt, die Sache fallenzulassen. Overly war der fünfunddreißigjährige Erbe der Herausgeberfamilie. Er hatte die
Times
übernommen, als sein Vater Sanford, seinerseits Nachfolger seines Vaters John und seines Großvaters Edmund, der die Zeitung Ende des neunzehnten Jahrhunderts gegründet hatte, in den Ruhestand gegangen war, und nahm seine Arbeit ebenso ernst wie die Unkenrufe, dass er der Aufgabe nicht gewachsen sei, weil er sie ererbt hatte, ohne vorher einschlägige Erfahrungen als Journalist oder Herausgeber gesammelt zu haben. Für ihn war es eine harte Probe, wenn andere gesellschaftliche Instanzen versuchten, Einfluss auf die beträchtliche Wirkungsmacht seiner Zeitung zu nehmen. Seit er die
Times
vor drei Jahren übernommen hatte, zeugten seine manchmal etwas sprunghaften Entscheidungen von einem Kampf, bei dem innere und äußere Kräfte seine Schritte zu lenken versuchten: Der Wunsch, es allen recht zu machen, stand dem Drang nach Unabhängigkeit entgegen. Seine Entscheidung, gleich am nächsten Tag einen Folgeartikel zu dem Knochenfund zu bringen, obwohl er der Geschichte noch gestern argwöhnisch gegenüberstand, bewies, dass ihm zugesetzt worden war, die Sache fallenzulassen, und er sich diesem Druck bewusst widersetzte.
Für Courtney und mich waren das natürlich gute Neuigkeiten. Elliot wies uns an, in unserem Bericht möglichst neutral und sachlich zu bleiben. Wir beschlossen, den Artikel erst zum Abgabetermin um 17 Uhr einzureichen, falls sich in der Zwischenzeit noch neue Entwicklungen ergaben. Diese Verzögerung erlaubte mir, die Mittagsverabredung mit meiner Mutter einzuhalten.
Sie wartete im Speisesaal auf mich, wo die meisten ihrer Mitpatienten schon beim Essen waren. Der Raum war groß und hell: bunte Kunstdrucke an den weißen Wänden, Hängepflanzen vor den großen Fenstern, Vorhänge, die beiseitegezogen waren, um das Tageslicht hereinzulassen, ein Regalbrett mit hübschen Keramikfigürchen über den Schränken der offenen Küche. Die Patienten, denen es noch etwas besserging, saßen an einem langen Tisch ganz links, von dem gedämpftes Geplauder herüberdrang. Meine Mutter war längst von diesem Tisch an einen kleineren umgesetzt worden, wo ich sie jetzt allein vorfand. Ringsum standen weitere Einzeltische, kleine Inseln mit schweigenden Patienten, die sich ganz aufs Essen konzentrierten, sorgfältig kauten und Geruch und Konsistenz so eingehend prüften, als wären Aufschnitt, Hüttenkäse und Götterspeise ganz neue kulinarische Erfindungen. Das Klappern der Bestecke auf den Tellern verstummte kurz, als ich eintrat, und die Gesichter, jedes deutlich von der Vergangenheit gezeichnet, wandten sich mir zu und musterten mich eingehend. Wer war diese Frau, und was wollte sie hier? Viele Augenpaare folgten mir auf dem Weg zu meiner Mutter, sahen mir zu, wie ich sie auf die Wange küsste und nach ihren Händen griff, die sie mir zur Begrüßung entgegenstreckte.
«Hallo, Mama.» Ich setzte mich auf den Stuhl neben ihr.
«Ich habe schon gewartet.»
«Aber nicht lange. Das Mittagessen hat doch noch kaum angefangen. Ich bin ganz pünktlich.»
Sie lächelte, sagte aber nichts. Selbst die einfachsten Aussagen verwirrten sie inzwischen.
«Ich bin ziemlich hungrig», sagte ich. «Du nicht auch?»
«Doch. Es gab ja heute nicht viel zu Mittag.»
«Wir haben doch noch gar nicht gegessen.» Ich drehte mich um, um der Serviererin zu signalisieren, dass sie unsjetzt das Essen bringen könne. Das Personal war Angehörigen gegenüber äußerst zuvorkommend und lud alle Besucher ein, an den Mahlzeiten und den übrigen Aktivitäten teilzunehmen.
Ein Essen mit meiner Mutter war wie eine Mahlzeit mit einem Kleinkind. Häufig waren ganz grundlegende Hinweise nötig. Es gab kleinere Unfälle. Und obwohl ich von der Konversation insgesamt nicht allzu viel erwarten konnte, wurde ich doch immer wieder von unerwarteten Äußerungen überrascht. «Jackie O. hatte die schmalste Taille von all meinen
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