Nur 15 Sekunden
Kundinnen», hatte meine Mutter irgendwann einmal beim Hühnchensalat verkündet. Und ich hatte mir die schmale Taille der berühmten Dame unter den vertrauten Händen meiner Mutter vorgestellt und dabei eine eigentümliche Mischung aus Stolz und Neid empfunden. Und einmal hatte sie erklärt, während ihr ein Stückchen rote Götterspeise fast vom Löffel fiel: «Dein Vater war der zärtlichste Liebhaber, den ich hatte.» Und während ich mich noch fragte, welche anderen Liebhaber sie gemeint haben könnte, versank ich in Trauer bei dem Gedanken an meinen Vater und die liebevollen Gesten und Worte, mit denen er mein jugendliches Herz umhüllt hatte. Und ich musste an Hugo denken und war den Tränen nahe. Die Mittagessen waren also entweder voller emotionaler Fallstricke oder aber entsetzlich langweilig. Das heutige war guter Durchschnitt und auf tröstliche Weise belanglos. Angenehm. Es gab keine überraschenden Äußerungen und auch keine größeren Kleckereien, die mich von meinem Stuhl hochgejagt hätten. Wir aßen und sprachen nur wenig. Dann begleitete ich sie langsam zurück in ihr Zimmer. Und schon war es wieder Zeit, ins Büro zurückzukehren.
Auf dem Weg zum Aufzug begegnete mir Nancy, die Heimleiterin, die tagsüber Dienst hatte. Sie war groß, hattekurzes, dunkelblondes Haar und einen wunderschönen milchkaffeefarbenen Teint. Sie gehörte zu den freundlichen und tüchtigen Menschen, die man immer gern um sich hat.
«Darcy … Ich wusste ja gar nicht, dass Sie im Haus sind. Ich wollte Sie eben anrufen.»
«Hallo, Nancy.»
«Vorhin wollte jemand Ihre Mutter besuchen, aber er stand nicht auf der Liste. Ich habe leider seinen Namen vergessen. Er sagte, er wäre ein Cousin.»
«Ein Cousin?» Weder ich noch meine Eltern hatten irgendwelche Cousins. Alle nahen Angehörigen waren vor sechzig Jahren dem Krieg zum Opfer gefallen, es gab also definitiv keine weiteren Verwandten. Wir waren zu dritt gewesen. Und dann nur noch zu zweit. «Was hat er genau gesagt?»
«Er war unten und hat verlangt, dass man ihn nach oben lässt. Er wollte zu Eva.»
«Sie haben ihn aber nicht hinaufgelassen, oder?»
«Aber nein! Doch nicht ohne Ihre Erlaubnis.»
«Ich habe keine Cousins», sagte ich. «Lassen Sie ihn also auf keinen Fall hoch. Lassen Sie niemanden hier herein, nur mich und Ben.»
Nancy stand direkt vor mir. Sie schien zu spüren, dass ich außer mir war, und legte mir lächelnd die Hand auf die Schulter. «Keine Sorge. Wir lassen niemanden herein.»
«Vielen Dank.»
Ich ging weiter zum Aufzug und hielt das Schloss mit meinem Schlüssel gedreht, bis er da war. Meine Hand zitterte, als ich den Schlüssel ungeschickt herauszog. Während mich der Aufzug nach unten in den Eingangsbereich trug, atmete ich ein paarmal tief durch. Das konnte doch nicht sein. Joe konnte doch unmöglich auch noch meine Mutter belästigen.
Als die Aufzugtüren sich öffneten und ein Mann direkt vor mir stand, um die Kabine zu betreten, blieb mir fast das Herz stehen. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte ich, es wäre Joe. Dann sah ich, dass der Mann um die neunzig war, graues Haar hatte und eine Gehhilfe vor sich herschob. Ich hielt ihm die Tür auf, während er schwerfällig in den Aufzug humpelte. Ich hatte fast damit gerechnet, Joe in der Eingangshalle anzutreffen, doch auch dort war nichts von ihm zu sehen.
Draußen ging ich die breite West End Avenue entlang, sah den Verkehr vorbeirauschen und die mächtigen Gebäude zu beiden Seiten, die Tausende von Menschen beherbergten. So viele Leute. Und wohin ich auch schaute, immer glaubte ich, Joe zu sehen. Ich ging ein Stückchen und drehte mich unvermittelt um, immer darauf gefasst, ihn zu ertappen. Aber nichts. Ich ging weiter, drehte mich wieder um. Und wieder. Joe war überall, obwohl ich ihn nirgends sah. Ich spürte ihn. Er war hier.
Bis ich die U-Bahn -Station erreichte, rannte ich beinahe. Dreimal musste ich mein Ticket durch den Schlitz der Eingangssperre ziehen, bis ich endlich durchkam. Auf der zehnminütigen U-Bahn -Fahrt zur 42nd Street bekam ich kaum Luft. Ich konnte einfach nicht zulassen, dass Joe Coffin meiner Mutter Angst einjagte. Ich selbst hatte ihn zu ihr geführt. Er wusste, wo sie zu finden war. Und je häufiger ich sie besuchte, desto größer wurde sein Interesse daran, sie ebenfalls zu besuchen. Würde ihn der Sicherheitsdienst auch wirklich davon abhalten, nach oben zu gelangen? In diesem Moment fühlte ich mich so stark bedroht wie noch nie, seit Joe
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