Nur 15 Sekunden
Eltern gelungen war, das Leben nach dem Holocaust zu ertragen. Das Leben meines Vaters schien im Rückblick wie eine Art langes Zwischenstadium. Ein Teil von ihm war bereits gestorben, und Stück für Stück fraßen ihn die Erinnerungen auf – das war es, was meine Mutter
die Stimmen
nannte. Sie dagegen hatte tatsächlich ein neues Leben begonnen. Und ich begriff erst jetzt, wie sie das geschafft hatte.
Man vergaß nichts und niemanden. Man erinnerte sich an jeden Augenblick, jedes Gefühl, jeden Gedanken, jeden Geruch. Man erinnerte sich an Einzelheiten, die einen auf ewig verfolgen würden. Doch das endlose Band aus Tagen, Wochen, Monaten und Jahren trug einen immer weiter mit sich fort. Man bewegte sich vorwärts, trotz allem. Und irgendwann, ganz allmählich, erwachten auch nach einem furchtbaren Erlebnis die Sinne und Bedürfnisse wieder, das gehörte nun einmal zum Leben. Ich begriff, dass ich mich Hugo gegenüber nicht schuldig zu fühlen brauchte. Er war unwiderruflich fort und würde dennoch in mir weiterleben, was immer ich auch tat. Nur Ben gegenüber hatte ich Schuldgefühle, weil ich ihm mein Verhältnis mit Rich verheimlichte.
Ich hatte nicht gern Geheimnisse vor meinem Sohn, es schien mir aber auch nicht richtig, ihn so schnell mit einerneuen Beziehung zu konfrontieren. Ein Kind hatte seine eigenen Gefühle und Erwartungen. Vielleicht würde Ben sich zurückgesetzt fühlen, wenn meine Liebe plötzlich noch jemand anderem galt. Und was, wenn es am Ende mit Rich nicht klappte? Was hätte das dann für Auswirkungen auf Ben? Rich machte sich zum Glück ähnliche Gedanken, und so waren wir stillschweigend übereingekommen, unsere Kinder aus der Sache herauszuhalten. Vorläufig zumindest.
Am späten Nachmittag machten Ben und ich einen langen Spaziergang bis nach Dumbo, wo wir Holzofenpizza aßen und zum Nachtisch ein hausgemachtes Eis, das wir langsam und genüsslich auf einer Bank mit Blick auf den East River verzehrten, während hinter uns die Sonne unterging und die Skyline von Manhattan in lavendelfarbenes Licht tauchte. Es war wunderschön. Ich hätte am liebsten nach Bens Hand gegriffen, nahm mich aber zusammen. Mein Sohn war dreizehn – die einzige Hand, die er je wieder halten wollen würde, war irgendwann die eines glücklichen Mädchens. Nach dem langen, gemächlichen Heimweg verzog er sich zum Lesen in sein Zimmer, und ich machte es mir mit dem Notebook auf dem Bett bequem.
Was ich dort in meinem Posteingang fand, sollte alles ändern.
ZWEITER TEIL
KAPITEL 6
Sara hatte mir eine weitere Mail geschrieben:
«Hallo, Süße, halt dich fest. Diese Sache mit Joe Coffin … das ist alles noch viel schlimmer als gedacht. Ich wollte dich anrufen, aber du warst nicht da, und das wollte ich dir nun wirklich nicht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen. Dein Handy war auch nicht an. Jetzt müssen wir gleich mit den Kindern zu Jean und Larry zum Abendessen, also muss ich dich per Mail damit überfallen. Tut mir wirklich leid.»
Ich warf einen Blick auf die Kopfzeile. Sie hatte die Nachricht vor einer Stunde abgeschickt.
«Ich habe diese Umzugskiste aufgemacht. Jetzt ist mir klar, warum er die nicht zu Hause gelassen hat, wo seine Mutter vielleicht reinschauen könnte. Da sind Sachen über verschiedene Frauen drin aus den letzten paar Jahren: verschwommene Fotos aus einiger Entfernung, völlig besessene Liebesbriefe, die er geschrieben und doch nicht abgeschickt hat. Und dann auch noch total skurrile Dinge wie eine verstaubte Schachtel mit Marzipanfrüchten, ein Paar weiße Pumps mit abgelaufenen Absätzen, ein Jahrbuch von 1989 aus irgendeiner Highschool in Texas. Vieles kapiere ich auch einfach nicht. Das Schlimmste sind zwei Höschen, die mir ziemlich getragen aussehen … Aber das erzähle ich dir alles nur, um nicht zum Wesentlichen kommen zu müssen. Er hat eine Art dickes Sammelalbum nur über dich. Da ist alles drin. Deine sämtlichen Artikel, verschwommene Fotosvon dir, Hugo und Ben und sogar ein paar von dir und mir, und mindestens zehn dieser nicht abgeschickten Liebesbriefe. Außerdem noch ein gerahmtes Foto, auf dem er den Arm um eine Frau gelegt hat, und die hat dein Gesicht, das er aus einem anderen Foto ausgeschnitten und darübergeklebt hat. Darcy, der Typ ist völlig durchgeknallt. Er ist tatsächlich ein Stalker, und nach dieser Kiste zu urteilen verfolgt er dich bereits seit mindestens zwei Jahren. Wahrscheinlich ist er dir auch nach New York gefolgt. ER IST WAHNSINNIG UND
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