Nur 15 Sekunden
kleine Recherche zu unseren jahrzehntealten Knochen zu starten. Ich fragte mich schon die ganze Zeit, wie viele Informationen ein Labor ihnen tatsächlich entnehmen konnte. Aber ich hatte den Entschluss gefasst, mir an den Wochenenden keine Stunde stehlen zu lassen, die ich stattdessen mit Ben verbringen konnte.
Seit Hugos Tod gab ich mir große Mühe, mehr Zeit für Ben zu haben, nicht immer so furchtbar beschäftigt zu sein, sondern so oft wie möglich die vertraute Atmosphäre zu genießen, die zwischen uns entstand, selbst wenn wir uns einfach nur beide im selben Zimmer aufhielten. Das hieß ganz konkret, dass ich am Wochenende gar nicht arbeitete, denn wenn ich erst einmal in etwas vertieft war, gab es kaum eine Möglichkeit, mich abzulenken, bis ich den Gedanken zu Ende gedacht, den Satz, den Absatz, die Seite oder den ganzen Artikel zu Ende geschrieben hatte. Als Ben noch klein war und wir in unserem Haus auf der Insel lebten, hatte er sich oft darüber beklagt, dass ich ihm immer den Rücken zudrehte, wenn ich am Computer saß. Ich hatte geglaubt, es würde genügen, dass ich da war, wenn er aus der Schule kam, musste aber bald feststellen, dass das allein längst nicht reichte. Er brauchte auch das Gefühl, dass meine Aufmerksamkeit ganz ihm galt, er wollte nicht nur meinen Rücken sehen, wenn er mich etwas fragte oder sich plötzlich entschloss, mir zu erzählen, wie es an dem Tag wirklich in der Schule gewesen war. Wahrscheinlich war das der Hauptgrund, dass ich mir hier in unserem neuen Haus keinen Arbeitsplatz eingerichtet hatte. Zunächst hatte ich das zwar vorgehabt, doch dann war ich einfach nicht dazu gekommen, und so legte ich mich immer aufs Bett, wenn ich etwas am Rechner machen wollte. Damit bekam Ben nie meinen Rücken zu sehen, wenn er mir etwas sagen wollte. Und es war auch gar nicht schwierig, im Liegen zu tippen, wenn man sich einmal daran gewöhnt hatte. Inzwischen fühlte ich mich fast ein wenig wie die Schriftstellerin Colette, die angeblich all ihre Romane im Bett verfasst hat. Oder wie Edith Wharton. Wer, fragte ich mich, während ich dort mit meinem Laptop lag, hatte die Welt wohl noch von einer gemütlichen Matratze aus mit großer Kunst versorgt?
Ich klappte das Notebook zu und suchte mein Zimmer nach dem Umschlag mit Bens Schulfotos ab. Als Nächstes kam Bens Zimmer dran. Nichts. Schließlich fand ich die Fotos auf dem Küchentisch, mitten in einem Poststapel, der sich dort während der letzten zwei Wochen angesammelt hatte. Ich war inzwischen recht versiert darin, Rechnungen und andere wichtige Unterlagen herauszufischen und in eine bestimmte Schublade zu legen, in der ich Dinge sammelte, die ich keinesfalls verlieren durfte; aber alle anderen Papiere flogen fröhlich im Haus herum und konnten letztlich immer überall sein.
Ben sah wirklich ziemlich blöd aus auf dem Bild, mit seinem steifen Schulfoto-Lächeln und dem strähnigen Haar, das ihm bis auf die Schultern fiel. Zwischen den Augen, dort, wo seine buschigen Brauen immer mehr zusammenwuchsen, saß ein leuchtend roter Pickel. Der erste Flaum beginnenden Bartwuchses lag wie ein Schatten über der Oberlippe. In den Wochen seit der Aufnahme war er noch um einiges dunkler geworden. Mein hübscher Junge. Ich drückte einen Kuss auf meine Fingerspitze und fuhr ihm damit über die fotografierte Wange, dann legte ich das Foto umgedreht auf den Glaseinsatz des offenen Rahmens. Er war wirklich sehr schön, ich war froh, dass ich ihn behaltenhatte. Was machte es schon, dass er von Joe kam? Es war doch nur ein Bilderrahmen, ein einfacher Gegenstand, der für sich genommen gar nichts bedeutete.
Ich stellte den Rahmen mit dem neuen Foto auf den Kaminsims im Wohnzimmer, der zwar nicht ganz so eindrucksvoll war wie der von Rich, aber dennoch ein wunderbarer Ort, um dekorative Dinge zu platzieren. Wir hatten bereits eine hübsche Sammlung von Familienfotos und auserwähltem Schnickschnack.
«Was ist das denn?» Ben war die Treppe heruntergepoltert und stürmte voller Energie ins Wohnzimmer.
«Ein Elefantenstoßzahn. Was glaubst du denn?»
«Ich seh aus wie der letzte Trottel.»
«Du siehst absolut hinreißend aus.»
So ging das jedes Jahr: Er tat, als wollte er das Schulfoto keinesfalls im Haus haben, ich versuchte, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Aber ich wusste, wenn ich nicht immer das neueste Foto aufstellte, würde er denken, ich hätte mich vor einer Pflicht gedrückt.
«Schöner Rahmen», bemerkte er jetzt.
«Ja, nicht?»
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