Nur 15 Sekunden
Erstes rief ich Sara an, wir brachten uns gegenseitig auf den neuesten Stand. Es sah alles danach aus, dass mir Joe tatsächlich von der Insel nach New York gefolgt war. Dann rief ich Elliot zu Hause an, um ihm mitzuteilen, dass die Sache mit Joe eskaliert sei und ich die Polizei einschalten würde. Er zögerte zunächst, bestärkte mich dann aber rasch darin, das Richtige zu tun.
«Tu, was du tun musst, Darcy. Solange du mich nur auf dem Laufenden hältst. Meine erste Amtshandlung heute wird eine persönliche Besprechung mit Paul Ardsley sein, die Sache duldet keinen weiteren Aufschub. Wir kümmern uns darum. Okay?»
«Ja, Elliot. Ich danke dir.»
Dann rief ich bei der Polizei an. Ich hatte noch gar nicht viel erzählt, als die Beamtin, die den Anruf entgegengenommen hatte, mich schon bat, das zuständige Polizeirevier aufzusuchen. Sie erklärte mir, ich fiele in den Zuständigkeitsbereich des 84. Reviers und hätte «Glück», weil dort nämlich ein ausgewiesener Stalking-Experte arbeite.
«Detective Jesus Ramirez», sagte sie. «Fragen Sie unbedingt nach ihm.»
Ich fütterte Mitzi und Ahab, duschte, zog mich an und packte mein Notebook ein. Doch als ich gerade aufbrechen wollte, erwartete mich eine weitere Überraschung.
Auf dem Weg zwischen Haustür und Gartentor lag ein dicker Umschlag auf dem Boden. Ich blieb wie angewurzelt stehen und schnappte nach Luft, als hätte ich mich unversehens einer angriffslustigen Schlange gegenüber gefunden. Sonnenlicht fiel durch das verschnörkelte Gitter des Tores herein und malte ein zittriges Muster auf die hellbraune Oberfläche des Umschlags. Jemand musste ihn hierhergelegt haben, nachdem Ben zur Schule aufgebrochen war, sonst hätte er ihn mir doch noch hereingebracht. Ich bückte mich, hob den Umschlag zögernd auf und drehte ihn um. Was in aller Welt hatte Joe mir jetzt wieder zukommen lassen?
Dann sah ich, dass es nur die Jeans waren, die ich in der Woche zuvor für Ben bestellt hatte. Trotz aller Erleichterung wurde ich das Gefühl nicht los, dass mir weiteres Unheil bevorstand – wenn nicht jetzt, dann später … irgendwann. Joe würde mich niemals in Ruhe lassen. Kaum hatte ich mich umgedreht, um zurück ins Haus zu gehen, brachte ein Klappern vor dem Gartentor mein Herz erneut zum Rasen.
Er war es. Das spürte ich. Entgegen aller Vernunft ließ ich das Päckchen fallen und riss das Gartentor auf, um ihnendlich zur Rede zu stellen … Für diese völlig irrationale Handlung hätte ich sicher bitter bezahlt, wenn da draußen tatsächlich Joe gewesen wäre.
Doch er war es nicht. Ich erkannte den gelben Helm von Abe Starkman. Er hatte sein weißes Fahrrad an den Zaun gelehnt und hielt einen gefalteten Umschlag in der Hand, um ihn durch den Briefschlitz zu schieben.
Wir starrten einander entsetzt an. Auf unsere Gesichter malte sich das gleiche Gefühl, das sich aus unterschiedlichen Quellen speiste: Angst.
«Ich wollte das nur kurz abgeben.» Er flüsterte fast, und seine Stimme bebte. Schweiß rann ihm bis zu den Schläfen hinunter und versickerte in den schwarzen Riemen des Fahrradhelms, die sein Gesicht einrahmten, um sich schließlich unter dem Kinn zu treffen. Sein ausrasierter Nacken wirkte rötlich und wund. Verletzlich. Er wollte mir nicht begegnen, wollte nicht gesehen werden und so schnell wie möglich wieder von hier verschwinden.
«Geht’s Ihnen gut?», flüsterte ich.
Er nickte – ein distanziertes Nicken, aus dem das Bemühen sprach, mich nicht mit seinen persönlichen Konflikten zu belasten. Zugleich zeigte es, dass er seine Entscheidung getroffen hatte und bereit war, die Folgen zu tragen. So schwer sie auch immer sein mochten.
Als ich ihm den Umschlag aus der Hand nahm, sah ich den alten, abgenutzten Ehering, der fest um seinen Finger lag. Seine hellen, blutunterlaufenen Augen riefen mir nochmals ins Bewusstsein, was für ihn auf dem Spiel stand.
«Danke», sagte er.
«Ich danke Ihnen.»
Er wandte sich endgültig ab, schwang sich auf sein Fahrrad und raste davon.
Ich schloss das Tor hinter ihm, ging hinein und riss denUmschlag auf, der einen Stapel loser Blätter enthielt. Es waren Verträge, und ich sah auf den ersten Blick, dass sie allesamt das Atlantic-Yards-Projekt betrafen. In meiner Erleichterung darüber, diese Unterlagen sicher unter dem Notebook in meiner Tasche zu wissen, hätte ich fast nicht mehr daran gedacht, wohin ich eigentlich unterwegs war. Und aus welchem Grund. Die Knochen-Story ließ mich die Angst
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