Nur 15 Sekunden
VERMUTLICH AUCH GEFÄHRLICH. Geh unbedingt SOFORT zur Polizei. Bitte ruf mich gleich morgen an und sag mir, dass du hingehst. Andernfalls werde nämlich ich dich so lange stalken, bis du Vernunft annimmst!»
Völlig perplex las ich die E-Mail gleich dreimal. Das erste Mal, um den Inhalt zu verstehen. Das zweite Mal, um sicherzugehen, dass ich mir auch nichts davon einbildete. Und dann ein drittes Mal, um mich endgültig von dem zu überzeugen, was Sara bereits fest zu glauben schien: Joe stellte ein sehr viel schwerwiegenderes Problem dar, als mir klar gewesen war oder ich mir selbst gegenüber zugeben wollte.
Etwa zwanzig Minuten später schrillte das Telefon. Als hätte er die ganze Zeit über gelauscht, gelauert, mich beobachtet, um genau den richtigen Zeitpunkt abzupassen. Joes erneute Anrufe führten mir seine krankhafte Hartnäckigkeit, auf die auch der Inhalt der Kiste schließen ließ, noch einmal in aller Konsequenz vor Augen. Das Klingeln hörte nicht mehr auf. Nach jedem zehnten Mal schaltete sich der Anrufbeantworter ein. Ich hörte mir die erste Nachricht an: «Hallo, Darcy, hier ist Joe. Ich hoffe, du hattest ein schönes Wochenende. Bei mir war’s ziemlich ruhig. Hast du das Geschenk gefunden, das ich dir dagelassen habe? Ruf doch mal an, wenn du Zeit hast.»
Jetzt duzte er mich auch noch. Als wären wir Freunde! Als würde ich ihn allen Ernstes zurückrufen! Er musste tatsächlich wahnsinnig sein. Jetzt zweifelte auch ich nicht mehr daran, dass es höchste Zeit war, zur Polizei zu gehen.
Doch zuallererst rief ich Rich an. Er war nicht da und ging auch nicht ans Handy. Wahrscheinlich malte er. Also leitete ich ihm Saras Mail weiter und sprach ihm auf den Anrufbeantworter: «Hier ist Darcy. Du hattest recht. Schau mal in deine Mails. Ich gehe gleich morgen früh zur Polizei.»
Das Telefon klingelte dreiundsiebzigmal, bevor es endlich schwieg. Jedes Mal kam Ben in mein Zimmer, fragte, was eigentlich los sei. Er gab sich sichtlich Mühe, meine lahmen Erklärungen zu akzeptieren, dass da wohl irgendwelche Marketingmenschen nicht wüssten, wann es Zeit zum Aufgeben war. Schließlich drohte er allerdings, selbst ranzugehen. Das musste ich um jeden Preis verhindern.
«Setz dich, Schatz.»
Es war bereits spät, wir waren beide schon im Schlafanzug. Ben setzte sich auf den Bettrand und sah mich erwartungsvoll an. Ich griff nach seiner Hand, und dieses Mal entzog er sie mir nicht – vielleicht, weil wir nicht in der Öffentlichkeit waren, vielleicht auch, weil er selber Angst hatte. Ich verschränkte meine Finger mit seinen und sagte: «Da ist so ein Typ bei der Arbeit, der macht mir etwas Ärger.»
«Wer denn?»
«Ich kenne ihn selbst kaum. Er hat früher auch auf der Insel gewohnt, und als er mich im Büro gesehen hat, war er sehr nett zu mir. Ich habe mir erst nichts weiter dabei gedacht.»
«Du meinst, er will mit dir zusammen sein?»
«Wenn du mit einem Mädchen zusammen sein wolltest, würdest du dann ständig bei ihr anrufen?»
«Auf keinen Fall.» Das kam wie aus der Pistole geschossen.
«Siehst du. Ich weiß überhaupt nicht, was er eigentlich von mir will. Das ist alles etwas eigenartig. Morgen spreche ich mit dem Personalchef im Büro, damit er Joe auffordert, das alles zu unterlassen.»
«Dann heißt der Typ also Joe?»
«Joe Coffin.»
«Schräger Name.» Das hatte Ben immer gesagt, wenn er auf der Insel dem Namen
Coffin
begegnete, sei es auf einem Straßenschild, einem Briefkasten, einer Namensliste aus der Schule oder sonst wo.
Schräger Name.
«Was genau macht ein Personalchef?»
«Er leitet die Abteilung, die für die Mitarbeiter zuständig ist. Die sorgen dafür, dass man seine Bonusleistungen bekommt und so was.»
«Und feuern irgendwelche Loser, die andere zu Hause belästigen.»
«Ganz genau.»
Ben dachte einen Augenblick nach. «Dann schmeißen sie ihn also raus, und er hört auf, dich anzurufen?»
«Das wollen wir hoffen. Es kann sein, dass sie ihn vorläufig nur verwarnen, um ihm die Möglichkeit zu geben, sein Verhalten zu ändern, bevor sie ihn tatsächlich feuern.» Doch noch während ich das sagte, war mir klar, dass das niemals reichen würde, um Joe loszuwerden. Ich brauchte mehr Hilfe. Doch einstweilen wollte ich Ben nichts von dem Entschluss erzählen, zur Polizei zu gehen. Und ich würde auch nicht anrufen, solange er noch im Haus war, sondern warten, bis er zur Schule gegangen war. Ich konnte nicht zulassen, dass er sich wegen dieser Sache Sorgen machte. Er
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