Nur 15 Sekunden
und mich von vorn, von hinten und beidseitig im Profil fotografierte. Ganz offensichtlich brauchte er diese Unterlagen, um mich zu identifizieren,falls … Ich brachte es nicht über mich, den Gedanken zu Ende zu denken.
Als wir fertig waren, versetzte er mir einen weiteren Schock. «Kommen Sie bitte baldmöglichst noch einmal mit Ihrem Sohn vorbei.»
«Für Fingerabdrücke und Fotos?»
«Es ist eine reine Formalität, aber wir sollten doch sichergehen, finden Sie nicht auch?»
«Doch …» Trotzdem wollte ich Ben keinesfalls hierherbringen. Es würde ihm Angst machen. Dann fiel mir plötzlich etwas ein. «Vor etwa zwei Jahren hat er bei der Agrarmesse auf Martha’s Vineyard mal seine Fingerabdrücke nehmen lassen, an einem Stand der Polizei. Reicht das vielleicht?»
«Natürlich.»
«Und ich könnte Ihnen sein neuestes Schulfoto überlassen.»
«Perfekt.»
Er hatte Verständnis für meine Sorgen, weil er selbst Vater war. Ich mochte ihn.
«Eins noch», sagte er, als wir wieder zu seinem Schreibtisch zurückkehrten. «Ich brauche Kopien der zahnärztlichen Unterlagen, von Ihnen beiden.»
Ich nickte – zumindest versuchte ich es. Ich konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Da sollte ich also im Grunde gar nichts tun und gleichzeitig alle Vorkehrungen für den Ernstfall treffen. Wie konnte ich mit diesen Aussichten bloß weiterleben? Mir fiel meine Mutter ein, meine starke, mittlerweile völlig verwirrte Mutter, die so viel mehr durchgemacht hatte, als ich mir jemals vorstellen konnte, und plötzlich schienen meine eigenen Probleme wieder fast belanglos.
«Ich rufe heute noch beim Zahnarzt an.»
Ramirez gab mir seine Visitenkarte, auf die er noch zusätzlich seine Handynummer schrieb, und ein Heft mit der Aufschrift STALKING-LOGBUCH, in das ich jeden weiteren Vorstoß von Joe notieren sollte. Die Idee dahinter war, alles im Moment des Geschehens zu notieren, um sich später bei eventuell entscheidenden Details nicht bloß auf das Gedächtnis verlassen zu müssen. Die Taktik bestand ganz offensichtlich darin, auf das Schlimmste vorbereitet zu sein und gleichzeitig das Beste zu hoffen. Nicht ganz das, was ich erwartet hatte, als ich das Polizeirevier betrat.
«Es wird schon alles gutgehen», sagte Ramirez zu mir, und seine Stimme beruhigte mich, ganz gleich, ob er das wirklich glaubte. Er begleitete mich durch den Flur, rief mir mit der ihm eigenen Galanterie den Aufzug und wartete, bis er kam. «Wenn es Sie tröstet: Sie sind nicht allein. Ich muss leider sagen, dass im Lauf der Jahre sehr viele Stalking-Opfer Hilfe bei mir gesucht haben.»
«Warum eigentlich Opfer? … Mir ist doch noch gar nichts passiert.»
«O doch. Es passiert Ihnen gerade jetzt, deshalb sind Sie ja hier. Es passiert die ganze Zeit. Wenn es vorbei ist, können Sie sagen, Sie haben ein Verbrechen überlebt. Aber bis dahin, solange es Ihnen noch widerfährt, sind Sie ständig Opfer. Das predige ich seit Jahren, gegenüber Polizisten, Staatsanwälten, Richtern und allen, die es sonst noch hören wollen. Man kann es gar nicht oft genug sagen. Stalking ist ein langsames, stetiges Verbrechen, das viele erst gar nicht als solches wahrnehmen, bis die Konsequenzen …» Er unterbrach sich, als er meine entsetzte Miene sah.
Dann lächelte er freundlich und legte mir die Hand auf die Schulter. «Angela, meine Frau, sagt mir immer, ich mache das schon zu lange. Sie glaubt, ich merke gar nicht mehr, wie schrecklich sich das für jemanden anhört, der nicht darangewöhnt ist. Es ist wie ein Irrgarten, das muss man schon sagen, aber ich werde Sie hindurchführen.»
«Wenn Sie das sagen.» Aber wie konnte er mich vor kommenden Gefahren schützen, die niemand voraussah?
«Bleiben Sie fest in Ihrem Glauben. Jesus führt Sie auf den richtigen Weg.» Er grinste und offenbarte eine breite Lücke zwischen den Schneidezähnen. «Das kriegt jeder irgendwann von mir zu hören.»
Lachend trat ich in den Aufzug. «Danke, Detective …»
«Gemeinhin nennt man mich Jess.» Er zwinkerte mir zu.
«Danke. Jess.»
Es war bereits nach elf, als ich im Büro ankam. Ich wartete fast fünf Minuten vor den Aufzügen, bis sich endlich eine der Türen öffnete. Und da stand Joe ganz allein mit seinem Postwagen in der Aufzugkabine, wie um mich gleich auf die Probe zu stellen. Als er mich sah, erstrahlte sein Gesicht in einem breiten Lächeln, und seine Augen leuchteten auf.
«Hallo!» Er hielt die Aufzugtür mit der Hand auf, um zu verhindern,
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