Nur 15 Sekunden
liegt ganz bei Ihnen. Aber Sie müssen sich über die möglichen Konsequenzen im Klaren sein. Ich persönlich würde Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt nicht dazu raten.»
Ich fühlte mich wie eine Krebspatientin, deren Arzt zu einer möglicherweise tödlichen Behandlung rät. Dabei wollte ich doch nur eine Autorität, die mir sagte, was ich zu tun hatte. Jemanden, der mir das Joe-Problem abnahm, es beseitigte. Aber das würde wohl nicht passieren.
«Eines müssen Sie aber noch wissen», fuhr Ramirez fort, «und darin liegt das eigentliche Dilemma. Wenn Sie keine einstweilige Verfügung haben, ist es im Falle der Eskalation sehr viel schwieriger, Anklage zu erheben. Gerichte sind heikel, wenn es um Stalking-Fälle geht. Manche Richter nehmen die Sache ernst, andere weniger, das ist von Bundesstaat zu Bundesstaat verschieden. Vor 1990 galt Stalking offiziell nicht einmal als Verbrechen.»
«Aber jetzt schon?»
«O ja. Die Kunst liegt darin abzuwägen, wann der richtige Zeitpunkt für eine einstweilige Verfügung gekommen ist. Wenn die Kerle ‹einstweilige Verfügung› hören und all das Kleingedruckte lesen müssen, spüren sie den Arm des Gesetzes, fühlen sich unter Druck. Sie sagten, Sie wollen Ihre Personalabteilung einschalten … möglicherweise istdas vorläufig die bessere Vorgehensweise, weil er das leichter verkraften wird. Vielleicht schämt er sich dann so sehr, dass er doch noch aufgibt. Manchmal bekommen diese Leute tatsächlich Angst vor sich selbst und hören auf. Aber ich möchte Ihnen keine falschen Hoffnungen machen. In Ihrem Fall geht das schon … wie lange? Eine Woche?»
«Zwei Jahre, nach dem Inhalt dieser Kiste zu urteilen.»
Ramirez dachte nach, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und strich sich mit seiner groben Hand über den Bart. «Ich werde mal bei den Kollegen auf Martha’s Vineyard anfragen, ob es irgendeine Vorgeschichte gibt, psychische Störungen beispielsweise, oder ob schon einmal jemand eine einstweilige Verfügung gegen ihn erwirkt hat. Die Kiste würde mich natürlich auch interessieren. Könnten Sie Ihre Freundin bitten, sie herzuschicken?»
«Das mache ich.»
«Und Sie sagten, Sie haben einen Sohn?»
«Ben ist jetzt dreizehn.»
«Hatte er schon irgendwelche Probleme mit diesem Joe?»
«Nein. Offenbar interessiert sich Joe nur für mich.»
«Na, immerhin.»
Ich lächelte gezwungen, und er reagierte mit einem leisen Lachen darauf.
«Und, wie sind meine Aussichten?», fragte ich. «Wie schlimm ist das alles?»
«Wollen Sie eine ehrliche Antwort? Es ist noch zu früh, um das zu beurteilen. Wenn er so weitermacht wie bisher, ist er ein kleiner Fisch, ein Störenfried, nichts weiter. Ich sage Ihnen, wie Sie am besten herausfinden, mit wem Sie es zu tun haben: Reden Sie nicht mehr mit ihm, schauen Sie ihn nicht an, lächeln Sie nicht, sagen Sie ihm nicht einmal die Uhrzeit. Gehen Sie nie, niemals ans Telefon, wenn er anruft.Antworten Sie nicht auf Briefchen, Mails oder andere Kontaktversuche. Wenn er Ihnen ein Geschenk macht, tun Sie, als hätten Sie es nie bekommen. Und wenn er Sie in die Enge treibt und Sie ihm beim besten Willen nicht ausweichen können, sagen Sie ihm ganz klar, dass Sie nicht interessiert sind. Lassen Sie ihm keine Möglichkeit, das irgendwie anders zu interpretieren. Und wenn er Ihnen noch einmal folgt, gehen Sie in die andere Richtung.»
«Das meiste davon mache ich seit Mitte letzter Woche schon», sagte ich. «Aber er hört nicht auf. Und ich bekomme Angst, wenn ich ihn sehe.»
«Das kann ich sehr gut verstehen, aber im Moment bleibt Ihnen leider nichts anderes übrig. Wir beobachten die Sache, schauen, ob sie eskaliert, und anschließend denken wir neu über eine einstweilige Verfügung nach. Es sei denn, Sie bestehen darauf, sofort eine zu erwirken.»
Es lief also unweigerlich darauf hinaus: Er würde mir nicht sagen, was ich tun sollte – ich musste selbst entscheiden.
«Dann raten Sie mir also im Grunde, gar nichts zu unternehmen?»
«Nein. Nicht gar nichts.»
Er bückte sich, öffnete ein Schränkchen und zog einen angestoßenen Pappordner heraus, dem er ein Formular mit der Überschrift FORMBLATT FÜR STALKING-OPFER entnahm. Wir füllten es gemeinsam aus, bis es schließlich eine Kurzfassung all dessen enthielt, was ich ihm erzählt hatte: die nackten Fakten ohne die Angst, die sie auslösten. Anschließend – und das erschütterte mich am meisten – führte er mich in ein angrenzendes Zimmer, wo er meine Fingerabdrücke nahm
Weitere Kostenlose Bücher