Nur 15 Sekunden
Mayhew.» Ich gab ihm die Hand. «Ich hatte bei der Zentrale angerufen, dort sagte man mir, ich solle mich an Sie wenden.»
Dem übrigen Gesicht zum Trotz hatte er ein zauberhaftes Lächeln und die tiefe, samtige Stimme eines Radiosprechers. «Gehen wir doch nach oben in mein Büro und unterhalten uns dort.» Er führte mich zum Aufzug und trat beiseite, um mich vorgehen zu lassen. Auf der Fahrt hinauf roch ich sein Rasierwasser. Der warme Moschusduft rief sofort eine Erinnerung in mir wach: mein Vater am Steuer unseres Wagens.Er fuhr mich durch einen plötzlichen Schneesturm zur Geburtstagsparty einer Freundin, von der wir erst bei der Ankunft erfuhren, dass sie abgesagt worden war, und sang mit seinem deutschen Akzent «The Circle Game» von Joni Mitchell. Wie war es möglich, dass dieser Polizist das gleiche Rasierwasser benutzte wie mein Vater vor Jahrzehnten? Zwei ganz verschiedene Personen an ganz verschiedenen Orten zu völlig verschiedenen Zeiten.
Detective Ramirez geleitete mich höflich durch einen heruntergekommenen Korridor in ein Großraumbüro, voll von Schreibtischen, an denen Beamte saßen und telefonierten oder an klobigen, altmodischen Rechnern arbeiteten. Es kam mir vor wie eine Low-Budget-Version unserer Nachrichtenredaktion, was mir irgendwie gefiel. Ich fühlte mich auf ganz merkwürdige Weise heimisch. Ramirez erbeutete einen unbesetzten Stuhl, schob ihn neben seinen Metallschreibtisch und bedeutete mir, Platz zu nehmen. Ich setzte mich. Erst dann setzte auch er sich an seinen auffallend ordentlichen Schreibtisch. Ein großes Familienfoto mitten auf dem Tisch zeigte ihn mit einer strahlenden, schwarzgelockten Frau und fünf Kindern.
Ich erzählte ihm alles, was geschehen war, und er lauschte mit zunehmend besorgter Miene. Als ich geendet hatte, beugte er sich vor, faltete die Hände auf dem Tisch und sagte: «Herzlichen Glückwunsch. Sie haben einen Stalker. Willkommen im Club.»
«Soll das ein Witz sein?»
«Keineswegs. Sie müssen entschuldigen, ich bin vielleicht schon ein wenig abgestumpft. Ich mache das seit fünfundzwanzig Jahren. Aber komisch ist ein Stalker beim besten Willen nicht.»
«Wie kann ich ihn dazu bringen aufzuhören?»
Ramirez rang sich ein wenig hoffnungsvolles Lächeln ab.
«Sie müssen bestimmte Vorsichtsmaßnahmen einhalten. Ich werde Ihnen sagen, was Sie tun und was Sie besser lassen sollten. Verhalten Sie sich möglichst unauffällig, unterlassen Sie alles, was ihn eventuell ermutigen könnte, und wir warten ab, ob das etwas nützt.»
Ich sah ihn fassungslos an. «Das ist alles?»
«Dazu würde ich zunächst einmal raten. Es gibt noch andere Möglichkeiten, beispielsweise eine einstweilige Verfügung …»
«Die will ich.»
«Das ist mir schon klar, aber lassen Sie mich Folgendes dazu sagen. In Stalking-Fällen haben einstweilige Verfügungen bisher nur wenig Wirkung gezeigt. Schlimmstenfalls kann die ganze Situation dadurch sogar noch eskalieren, vor allem, wenn das eigene Leben dem Stalker keine große Ablenkung bietet und er nicht viel zu verlieren hat. Dann sieht er in der Verfügung nur eine weitere Mauer, die er niederreißen muss, um zu Ihnen zu gelangen. Wenn er eventuell auch noch leicht in Wut gerät, kann der Zorn über die Tatsache, dass Sie offizielle Schritte gegen ihn eingeleitet haben, dazu führen, dass … Lassen Sie es mich so ausdrücken: Sie machen sich keine Vorstellung, wie viele weibliche Mordopfer eine einstweilige Verfügung in der Tasche haben, wenn wir sie finden.»
Ich spürte, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich – aus dem Herzen, den Adern, der Seele. Ramirez schien zu merken, wie wenig taktvoll seine Bemerkungen gewesen waren, und versuchte gegenzusteuern.
«Ich will damit im Grunde nur sagen: Wenn Sie eine einstweilige Verfügung erwirken, sind wir gesetzlich verpflichtet, Ihren Stalker darüber zu informieren, und das gibt grundsätzlich Ärger. Diese Kerle sind besessen. Zu allem entschlossen. Wenn sie das Wort ‹einstweilige Verfügung›hören, kann das zweierlei in ihnen auslösen: Entweder es spornt sie an, oder es macht sie wütend. Manchmal auch beides. Gelegentlich, wenn es sich nicht um einen Profi-Stalker handelt, gibt er auch auf. Aber das kommt wirklich sehr selten vor.»
«Was meinen Sie mit Profi-Stalker?»
«Dass er etwas Ähnliches schon einmal gemacht hat.»
«Ich fürchte, das trifft auf Joe zu.»
Ramirez nickte müde. «Natürlich können Sie eine einstweilige Verfügung verlangen. Das
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