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Nur 15 Sekunden

Nur 15 Sekunden

Titel: Nur 15 Sekunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Pepper
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vor Joe tatsächlich fast vergessen. Ich brannte darauf, mir die Unterlagen genauer anzuschauen.
    Auf dem Weg zum Polizeirevier an der Gold Street, das im Schatten der Manhattan Bridge lag, wurde ich immer wütender auf Joe. Was mutete er mir alles zu! Ich wollte mich mit dem Inhalt dieses Umschlags auseinandersetzen und keine Zeit damit verschwenden, mich über irgendeinen Schwachkopf zu beschweren, der es auf mich abgesehen hatte. Immer wieder ertappte ich mich bei dem Gedanken, dass die Sache mit Joe vielleicht doch vollkommen unwichtig war. Doch dann fiel mir die Kiste wieder ein. Ich musste mir klarmachen, dass das alles ganz und gar nicht unwichtig war. Zu meiner eigenen Sicherheit musste ich mich damit auseinandersetzen, ob ich nun wollte oder nicht. Sorgen und Zweifel steigerten meine Wut. Wäre Joe in diesem Moment aufgetaucht, ich wäre wahrscheinlich abrupt stehen geblieben, zu ihm herumgewirbelt und hätte gebrüllt: «LASS MICH ENDLICH IN RUHE!»
    Aber war er denn nicht da? War er nicht ständig um mich? Wie hatte ich ihn bloß zwei Jahre hindurch nicht bemerken können? Mein Umzug nach New York hatte ihn dazu veranlasst, aktiv zu werden, der Insel, auf der er geboren war, den Rücken zu kehren, seine Mutter zu verlassen und mir hierher in die große Stadt zu folgen. Und nun war ich der einzige Mensch unter Millionen, den er kannte. Millionen Fremde, die ihn allesamt nicht interessierten   … undich, an der er ein völlig übertriebenes Interesse entwickelt hatte.
    Auf der MetroTech Plaza, in unmittelbarer Nähe der Gold Street, blieb ich stehen und sah mich um. Büroangestellte hasteten aus allen Richtungen an mir vorbei, und mein Verharren wollte so gar nicht zur allgemeinen morgendlichen Hektik passen. Ich entdeckte Joe nirgends und ging weiter. Mir kam in den Sinn, dass ich jetzt tatsächlich auf dem Weg zu einem gewissen Jesus war, um Hilfe zu suchen. Wer hätte das gedacht?
    Das 84.   Revier, ein schlichter, quadratischer Bau, befand sich direkt an der Grenze zwischen der «wiederbelebten» MetroTech Plaza und einer Reihe äußerst unansehnlicher Sozialwohnungen. Sie hätten sich ohne weiteres als Verschandelung des Stadtbilds qualifiziert, wenn die Stadtverwaltung sie nicht eigenhändig hätte bauen lassen. Der Stadtplaner Robert Moses hatte New York in den 40er und 50er Jahren in vieler Hinsicht geprägt, vor allem aber in dieser: bezahlbarer Wohnraum in Backsteinanlagen, die aussahen wie Gefängnisse. Doch diese Ausgeburten der Hässlichkeit mit Hilfe des Enteignungsgesetzes abreißen zu lassen, so wie man mit den Vierteln im Umkreis des Atlantic-Yards-Projekts verfuhr, wäre dem Bekenntnis gleichgekommen, dass die vielen städtischen Wohnbauprojekte gescheitert waren. Sie trennten ganze Bevölkerungsgruppen voneinander und schufen isolierte Ghettos, denen ihre soziale Benachteiligung ständig vor Augen stand und die von einer Atmosphäre der Verzweiflung geprägt waren. Die Projekte der Stadtverwaltung kamen einer ökonomischen Ächtung gleich, die oberflächlich betrachtet wie Rassentrennung wirkte. Hugo hatte mir einmal von einer Studie erzählt, derzufolge Umweltaktivisten bei Leuten, die selbst keine Hoffnung mehr hatten, von vornherein auf Granit bissen. Und so war esauch kein Wunder, dass hier die Straßenbeleuchtung am helllichten Tag brannte und die Straßen hinter dem Polizeirevier mit Müll gepflastert waren, so weit mein Blick reichte, als ich mich der schmutzigen Glastür näherte.
    Der Eingangsbereich wirkte kaum einladender als das Gebäude selbst. Hinter einer verkratzten Plexiglasscheibe saß eine uniformierte Polizistin, wohl eine Art Empfangssekretärin. Ich beugte mich zu der kleinen, halbrunden Öffnung und sagte: «Ich möchte zu Detective Jesus Ramirez.»
    «Haben Sie einen Termin?»
    «Nein.»
    Das schien zum Glück keine weitere Rolle zu spielen. Sie beugte sich über die Gegensprechanlage, und kurze Zeit später stand Jesus Ramirez vor mir.
    Ich hatte noch nie im Leben einen so hässlichen Mann gesehen. Obwohl er nicht sonderlich klein war, wirkte er untersetzt. Er hatte winzige Äuglein, die entstellte Nase eines Preisboxers und einen breiten Mund, dessen fleischige Lippen das grobschlächtige Gesicht vollends entstellten. Ein kurzer schwarzer Bart verhüllte das Kinn, und durch das schüttere Haar, das den unförmigen Schädel nur notdürftig bedeckte, sah man die roten, kreisrunden Spuren einer offenbar gescheiterten Haartransplantation.
    «Mein Name ist Darcy

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