Nur 15 Sekunden
strähnige Haar in sein hübsches Gesicht fiel. «Doch, voll gut.»
Wir fuhren zusammen mit dem Bus nach Hause, und Ben setzte sich nach einem kurzen Imbiss an die Hausaufgaben. Ich legte mich aufs Bett mit meinem neuen Notebook, das so neu gar nicht war und nicht viel anders aussah als das alte, bis auf einen blauen Schlumpf-Sticker links unterhalb des Bildschirms. Als Erstes checkte ich meine Mails. Inmitten einer neuen Serie aus dem scheinbar unerschöpflichen Vorrat an Spam-Mails sprangen mir zwei Nachrichten ins Auge: eine Mail von meiner eigenen Adresse – von meinem Notebook? Von Joe? Sie war abgeschickt worden, bevor er mich auf der Straße attackiert hatte. Und eine zweite vom Polizeirevier auf Martha’s Vineyard mit der Betreffzeile: «Fingerabdrücke Ben Mayhew». Zuerst öffnete ich die Mail, die von mir kam. Sie enthielt nur ein einziges Wort, in einer absichtlich verschnörkelten Schriftart:
Schlampe
Instinktiv wollte ich sie löschen, sie umgehend in den computereigenen Papierkorb verfrachten. Dann fiel mir der Ordner ein, den Courtney auf meinem alten Notebook als Aufbewahrungsort für Joes wahnhafte E-Mail -Episteln eingerichtet hatte. Ich legte auch auf dem neuen einen entsprechenden Ordner an, den ich diesmal ganz unverfroren
Fahr zur Hölle, Joe Coffin
betitelte, und verschob die neueste Mail hinein. Dann ließ ich den Kopf aufs Kissen sinken, betrachtete einen Riss an der Decke und folgte seinem Zickzacklauf von der Zimmerecke bis in die Mitte des Raumes. Und dachte nach.
Joe musste diesen Ordner gesehen haben. Er musste all die Mails von Sara und mir gelesen haben, die noch im Posteingang lagen. Wir hatten über ihn gesprochen, hatten versucht, aus seinem Verhalten schlau zu werden, hatten uns über ihn lustig gemacht. Auch die Mails, die sich auf meine Arbeit bezogen, musste er gelesen haben. Und ob er wohl auch sämtliche Word-Dateien gelesen hatte? Meine Notizen und Gedächtnisstützen, in denen praktisch alles, woran ich arbeitete, enthalten war?
Natürlich. Nicht eine einzige Datei würde er ungeöffnet lassen. Er würde sich alles ansehen, was es von mir zu sehen gab, all meine Gedanken und Pläne. Alles, was ich geschickt bekommen, alles, was ich selbst geschrieben hatte.
Ich schloss die Augen, verbannte den Riss, die Zimmerdecke, das Haus, den Umzug, Hugos Tod, die Alzheimererkrankung meiner Mutter. Verbannte Joe aus meinem Kopf.
Vom Flur her hörte ich Ben ins Bad schlurfen. Kurze Zeit später ertönte die Klospülung, dann das Rauschen des Wasserhahns.
Ich machte die Augen wieder auf und rief nach draußen: «Vergiss nicht, das Licht auszumachen.»
«Ist schon aus.»
Er schlurfte in sein Zimmer zurück. Es war sein «Scheißhausaufgaben»-Schlurfen: lustlos und unmotiviert.
Ich öffnete die zweite Mail, und auf dem Bildschirm erschienen die Abdrücke aller zehn Finger meines Sohnes im Kleinformat. Jeder Abdruck besaß seine eigene, perfekte Asymmetrie von Linien, so schön, wie sie nur die Natur hervorbringen konnte. Immer wieder versuchte die Kunst, diesen Grad an Perfektion zu imitieren, aber es gelang ihr nur in den seltensten Fällen. Jeder Abdruck schien einzigartig, und trotzdem hatte ich irgendwo gelesen, dass Fingerabdrücke nicht mehr als ganz so zuverlässiges Beweismittel galten,wie man immer geglaubt hatte. Sie konnten täuschen. Zahnanalysen waren da sehr viel sicherer, ganz zu schweigen von DN A-Proben . Ich zog Jess’ Karte aus meiner Handtasche, auf der auch seine Mailadresse stand, leitete ihm Bens Fingerabdrücke weiter und schloss die Datei.
Dann klickte ich noch einmal auf «Senden/Empfangen» und bekam eine Mail von Courtney, in der sie mir von ihrem Besuch bei der Baubehörde erzählte. Es war ein voller Erfolg gewesen. Die offiziellen Verkaufsdokumente für das Grundstück waren nicht identisch mit denen, die ich von Abe Starkman bekommen hatte.
Abe Starkman
… Ich hatte seine Kontaktdaten im Adressbuch meines Computers gespeichert, Joe kannte also seinen Namen. Übelkeit stieg in mir auf und breitete sich als säuerlicher Geschmack im Mund aus. Ich schluckte und versuchte, mich zu beruhigen, indem ich mir klarmachte, dass Joe sich nicht für Abe Starkman interessierte. Ihm ging es doch nur um mich.
In der Stille meines Zimmers konnte ich kaum glauben, dass das alles wirklich geschah. Dass ich tatsächlich einen Stalker hatte. Ich hatte in den Nachrichten davon gehört, Zeitungsberichte über Frauen gelesen, die jahrelang von Stalkern
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