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Nur 15 Sekunden

Nur 15 Sekunden

Titel: Nur 15 Sekunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Pepper
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meinem entfernt, war völlig entstellt. Die bleichen Wangen wirkten eingefallen vor Qual, die Augen stachen wie schmutzige Murmeln aus dem wächsernen Gesicht hervor, sie quollen schier aus den Höhlen. Und sein Geruch war grauenvoll: Mit jedem seiner Worte erreichte mich ein Gestank, als hätte er sich gerade erbrochen.
    Stan ließ seinen Hotdog fallen und trat zwischen uns. «Lass sie gefälligst in Ruhe!» An seinem Rücken, hinter dem ich mich stocksteif vor Angst verbarg, zeigte sich ein feuchter Streifen auf dem Hemd.
    Joe packte Stan an den Armen, die Knöchel traten weiß hervor, als sich seine Finger in die blauen Hemdsärmel krallten. Ich spürte, wie mein Kollege sich anstrengen musste, um Joe auf Abstand zu halten. Der Junge war offenbar viel kräftiger, als er aussah. Das Ausmaß seiner Aggressivität versetzte mir einen weiteren Schock. Joes Reaktion auf die Aufforderung, sich von mir fernzuhalten, entsprach genau Jess’ schlimmsten Prophezeiungen. Wenn er bereits so auf eine einstweilige Verfügung reagierte, die nur für den Arbeitsplatz galt, was würde dann erst passieren, wenn er eine erhielt, die von der Polizei ausgestellt worden war? Stan versuchte weiterhin mit aller Kraft, Joe von sich wegzudrücken, ihn nicht an mich heranzulassen. Plötzlich griff eine Frau nach mir und zog mich beiseite, zwei Männer stürzten sich von hinten auf Joe und warfen ihn zu Boden. Und dann war es vorbei.
    Mein Mittagessen fiel aus der Tüte, Sandwich und Saftpackung landeten scheinbar unversehrt auf dem schmutzigen Bürgersteig. Die Frau hob beides auf und gab es mir zurück.
    «Ich glaube, er arbeitet in der Poststelle der
Times
», hörte ich Stan zu dem Sicherheitsmann sagen, der aus dem Eingangsbereich unseres Gebäudes nach draußen gelaufen kam.
    «Ja, ich kenne ihn. Hat jemand die Polizei gerufen?»
    Die Polizei – ein weiterer Beweis dafür, dass die Maßnahmen am Arbeitsplatz, die Vereinbarungen über angebrachtes Verhalten und die Sicherheitsleute einen letztlich doch nicht ausreichend schützen konnten.
    «Ja, ich», sagte ein Mann aus der Schlange vor dem Hot-Dog-Stand, der stehen geblieben war, um zu sehen, was als Nächstes passieren würde.
    Joe, der inzwischen von vier Männern am Boden gehalten wurde, hatte die Augen fest zugekniffen, die Lippen zusammengepresst und atmete tief durch die Nase ein und aus, um sich wieder zu beruhigen. Es war, als würde man ein wildes Tier dabei beobachten, wie es versucht, sich zahmer zu zeigen. Joe schien zu wissen, was ihm blühte, wenn er sich nicht schleunigst wieder zusammenriss. Ich fragte mich, ob er vielleicht schon einmal in einer geschlossenen Anstalt gewesen war, mit Medikamenten, Zwangsjacke, Therapie und dem ganzen Programm. Es war, als hätte er blitzschnell erkannt, welchen Preis er für dieses unglaubliche Fehlverhalten zahlen würde. Als rechnete er mit weniger gravierenden Folgen, wenn die Polizisten bei ihrer Ankunft nicht denselben Mann vorfanden, den wir alle gerade erlebt hatten. Umgeben von Fremden, die mir zu Hilfe geeilt waren, fühlte ich mich allmählich sicherer. Ich spürte, wie die Angst nachließ und reiner Abscheu wich, die mir wie ein Stein im Magen lag. Der Hunger, der mich zum Mittagessen nach draußen getrieben hatte, war vergangen. Zurück blieb etwas, was ich so noch nie empfunden hatte: die wilde Entschlossenheit, einen übermächtigen Gegner zu bezwingen. Ich hatte einen Feind,einen starken, zu allem bereiten Feind, und musste mir eine Strategie überlegen, um diesen Kampf zu überleben.
    Die Polizei kam und führte Joe in Handschellen ab. Um ihm die Hände auf dem Rücken zu fesseln, mussten sie ihm den schweren Rucksack abnehmen. Sie schoben Joe auf den Rücksitz des Streifenwagens und stellten den Rucksack neben ihn. Ob mein Notebook darin war? Ich war kurz davor, von ihm zu verlangen, es mir zurückzugeben. Doch eigentlich ging es mir nicht mehr um das Notebook. Ich würde ein neues bekommen und meine Dateien darauf laden können. Als ich dem Streifenwagen mit Joe auf dem Rücksitz nachsah, hatte ich immer stärker das Gefühl, nichts in meiner Nähe haben zu wollen, was dieser widerwärtige Kerl auch nur angefasst hatte.
    «Mann», sagte Stan neben mir. «Der Typ ist ja richtig ausgerastet.»
    «Danke, dass du eingegriffen hast.»
    «Stets zu Diensten, Mylady.» Er zwinkerte mir zu, und Fältchen umrahmten seine Augen.
    Ich musste lachen. Stan war ein guter Journalist und ein freundlicher, zurückhaltender Kollege.

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