Nur 15 Sekunden
verfolgt wurden. Aber die Ausweglosigkeit einer solchen Situation hätte ich mir niemals vorstellen können. Man fühlte sich wie ein gehetztes Tier. Zu Tode gehetzt. Warum sonst sollte ein Stalker einen anderen Menschen derart hartnäckig verfolgen? Er konnte doch nicht im Ernst darauf hoffen, dass man irgendwann nachgab und ihn doch noch lieben würde? Das war völlig absurd. Obwohl ich mich an eine Geschichte erinnerte, bei der eine Frau von ihrem Stalker mit Säure attackiert worden war, als sie die Haustür öffnete, und daraufhin das Augenlicht verloren hatte. Der Täter musste eine lange Gefängnisstrafe verbüßen, und als er wieder auf freiem Fuß war, hatten sie tatsächlich geheiratet. Wenn Joe mich erblinden ließe, mich zu einem Leben in völliger Dunkelheit verdammte, wäre ich dann vielleicht auch einsam genug, um ihn zu lieben?
Nein. Niemals.
Wie war es nur möglich, dass ich auf der Insel nichts bemerkt hatte? Zwei Jahre lang! Konnte das wirklich wahr sein? Es kam mir praktisch unmöglich vor, auf so einer kleinen Insel verfolgt zu werden, ohne es zu wissen. Offenbar hatte er mich schon verfolgt, als Hugo noch lebte. Wie hätte Hugo wohl auf all das reagiert? Er hätte sicher gewusst, was zu tun war.
Ich schloss die Augen und atmete tief ein und aus, spürte die Liebe zu Hugo und wie sehr er mir fehlte, dachte an Rich und unser bevorstehendes «Frühstück» am Mittwochmorgen und verabscheute Joe. Ich war verwirrt und fühlte mich erschöpft. Es war bereits nach fünf, im Nebenzimmer hockte ein pubertierender Junge, der vermutlich bald Hunger haben würde – einen Heißhunger, wie ihn nur Jungs im Teenageralter entwickeln können – und etwas zum Abendessen brauchte. Vielleicht sollten wir in das Lokal an der Ecke zur Dean Street gehen; Ben liebte die Hamburger dort, die mit den weltbesten Pommes und einem schönen Salat serviert wurden. Doch als ich daran dachte, fiel mir auch Joe wieder ein. Hatte man ihn verhaftet? Oder war er schon wieder draußen?
Ich rief Jess an. Er nahm sofort ab. «Ramirez.»
«Hier ist Darcy Mayhew.»
«Ich wollte Sie gerade anrufen.» Jess klang niedergeschlagen. «Sie haben ihn vor etwa einer Stunde nach Hause geschickt. Mit einer Verwarnung.»
«Ich habe mir das überlegt, Jess. Vielleicht sollte ich doch eine einstweilige Verfügung beantragen …»
«Wie Sie wollen, Darcy. Das liegt ganz bei Ihnen.»
Jetzt fing er schon wieder damit an, wie ein Arzt, der eine Behandlungsmethode bevorzugt und seinen todkranken Patienten dennoch nicht dazu überreden, sondern ihm selbst die Entscheidung überlassen will.
«Aber Sie raten mir nach wie vor davon ab?»
«Ja.»
Mehr sagte er nicht. Er hielt es also tatsächlich nicht für ratsam. Aber ich hatte Angst, ich wollte Schutz. Andererseits hatte mich die einstweilige Verfügung am Arbeitsplatz ja gerade nicht beschützt, im Gegenteil. Würde eine von der Polizei wirklich mehr Erfolg haben? Immer wieder gingen mir Jess’ Argumente durch den Kopf, sie speisten sich schließlich aus langjähriger Erfahrung. Jedes Mal, wenn ich glaubte, mich endgültig für eine einstweilige Verfügung entschieden zu haben, hörte ich seine Stimme, sah sein Gesicht vor mir – das hässlichste Gesicht der Stadt, das zu einem ihrer freundlichsten Einwohner gehörte – und beugte mich schließlich seinem Rat.
«Na schön. Dann ist er also wieder draußen. Und was mache ich jetzt?»
«Alles, was wir bereits besprochen haben. Und falls etwas passiert, Darcy, egal, was … selbst wenn nur Ihr Telefon klingelt, dann rufen Sie mich unbedingt an. Zu jeder Tages- und Nachtzeit. Machen Sie sich keine Gedanken wegen meiner Frau, sie ist es gewöhnt, dass mich ständig fremde Frauen anrufen.» Er lachte leise.
«Danke, Jess.»
Etwas beruhigter legte ich auf, fühlte mich aber längst nicht sicher genug, um mit Ben auswärts essen zu gehen. Ich hatte keine Ahnung, was Vorratskammer, Kühlschrank und Tiefkühlfach noch hergaben, aber es würde sich mit Sicherheit etwas finden lassen, woraus ich ein schnelles Abendessen zaubern konnte.
Es gab Pasta mit einem etwas schlaffen Broccoli, der aber gekocht gar nicht so schlecht schmeckte, und Eis zum Nachtisch. Später legte ich mich zu Ben aufs Bett, wie ich es oft getan hatte, als er noch klein war. Er drehte sich auf die Seite, um sich auf seine Lieblingsart kraulen zu lassen: mit zwei Fingerknöcheln an der Wirbelsäule entlang. Als ich wieder aufstand, überraschte er mich mit der Bemerkung:
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