Nur 15 Sekunden
anderen, von der man sich noch kaum vorstellen konnte, dass man jemals seinen Platz in ihr finden würde. Licht und Dunkel, Schwarz und Weiß, Gut und Böse. Erinnerungen und neue Erfahrungen waren zwei Seiten derselben Medaille, und diese Medaille war man selbst.Man durfte sich weder der Vergangenheit noch der Zukunft verschließen.
Wie schrecklich die Stunden waren, die Ben an diesem Donnerstag in der Schule verbrachte. Ich vermisste ihn. Ich wollte ihn bei mir haben. Doch ich musste mich immer wieder zur Ordnung rufen, um ihm nicht zu offen zu zeigen, wie sehr ich ihn brauchte.
Ich ging weiter und weiter. An jeder Straßenecke machte ich mich auf eine Begegnung mit Joe gefasst. Ich redete mir ein, bereit dafür zu sein, doch je länger ich unterwegs war, desto klarer wurde mir, dass das Unsinn war. Ich wollte der Konfrontation mit ihm unbedingt gewachsen sein. Und es würde unweigerlich dazu kommen, das wusste ich mit plötzlicher Klarheit. Das konnte alles Mögliche bedeuten: Demütigung, Gefangenschaft, vielleicht sogar den Tod. Darauf musste ich vorbereitet sein.
Als ich wieder zu Hause war, rief ich Courtney an. «Würdest du mich immer noch zu diesen Stalking-Beratern begleiten?»
«Aber sicher. Sag mir einfach, wann.»
«Ich rufe gleich an und mache einen Termin, dann sage ich dir Bescheid.»
«Super. Aber bevor du auflegst …» Ich hörte sie am Schreibtisch mit Papier rascheln und dachte sehnsüchtig an die Nachrichtenredaktion. «Ich habe hier den vorläufigen Analysebericht zu den Knochen: zwei Männer und eine Frau. Mehr wissen wir allerdings noch nicht.»
«Und das Alter?»
«Auch noch nichts. Kein Alter, kein zeitlicher Rahmen, wie lange sie dort gelegen haben. Das dauert alles noch, heißt es.»
«Halt mich auf dem Laufenden, ja?»
«Na klar doch.»
Ich rief bei MacDonald & Tierney an und wurde zu einem gewissen Jed Stevens durchgestellt, der meinen Schilderungen lauschte und mir dann einen Termin für den Nachmittag des nächsten Tages gab. «Mit der ersten Beratung sollten wir nicht allzu lange warten», erklärte er mir mit einer Stimme, die viel zu jung für seine Tätigkeit klang. Immerhin beeindruckte mich seine Effizienz. Er wusste, dass Zeit ein entscheidender Faktor war. Vielleicht konnte er mir ja tatsächlich helfen. Ich notierte den Termin samt Adresse in meinem Kalender, dann rief ich Courtney an und gab ihr alles durch. Sie wollte mich zu Hause abholen und hinbringen, doch das lehnte ich ab.
«Wir treffen uns dort. Freitags esse ich mittags immer mit meiner Mutter.»
«Glaubst du wirklich, dass es gut ist, da morgen hinzugehen?»
«Sie erwartet mich freitags. Es steht so in ihrem Kalender, das Pflegepersonal erinnert sie den ganzen Morgen daran.»
«Ruf an und sag ihnen, sie sollen es lassen. Sie weiß doch nicht, dass Freitag ist.»
«Aber ich weiß es. Ich muss einfach hin.»
«Tu dir und mir einen Gefallen, ja? Wenn du allein unterwegs bist, ruf vorher bei Jesus an und sag ihm, wann du wo sein wirst. Es kann nicht schaden, wenn er weiß, wo du bist.»
Das versprach ich ihr. Und ich hielt mein Versprechen: Am Freitagmorgen rief ich Jess an und gab ihm meinen Plan für den Tag durch.
Vor dem Gebäude an der West End Avenue stand ein Polizist, wie ein Wachposten, und ich fragte mich, ob Jess das irgendwie für mich arrangiert hatte. Im Vorbeigehen versuchte ich, einen Blick auf die Marke zu erhaschen, konnteaber nicht erkennen, zu welchem Revier er gehörte. Er sah zu mir herüber, ich lächelte, und er nickte mir zu. Das gab mir das Gefühl, in Sicherheit zu sein: Der Polizist würde hier warten, bis ich wieder unten war, und Joe würde nicht an ihm vorbeikommen.
Es war noch ein wenig zu früh für das Mittagessen, und meine Mutter wartete im Gemeinschaftsraum, wo gerade eine Partie Bingo zu Ende gegangen war. Ein Mann und vier Frauen schlichen und humpelten auf Stöcke gestützt an mir vorbei und musterten mich neugierig, als hätten sie mich noch nie gesehen. Ich kannte sie alle bereits, wusste sogar ihre Namen, aber ich ließ mir nichts anmerken, sondern begrüßte sie nacheinander und stellte mich ihnen als Evas Tochter vor.
«Eva hat eine Tochter!» Hettie suchte mit dem altersfleckigen Arm Halt an der Wand, während sie sich umdrehte, um zu meiner Mutter zurückzuschauen, die am anderen Ende des Zimmers vor ihrem Lieblingsfenster saß und hinausschaute. «Wie schön für sie.»
«Ich habe Hunger», verkündete der Mann. Er war kahlköpfig und
Weitere Kostenlose Bücher