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Nur 15 Sekunden

Nur 15 Sekunden

Titel: Nur 15 Sekunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Pepper
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Mädchen unter der Laterne.
» Sie nannte mir den Titel auf Deutsch, und meine lückenhaften Kenntnisse der Sprache genügten, um ihn zu verstehen. Es war das Lied, das Marlene Dietrich unter dem Titel «Lili Marleen» in Amerika berühmt gemacht hatte. Jetzt wusste ich auch, weshalb es mir immer so bekannt vorgekommen war. Das Lied meiner Mutter war ein bisschen anders, ursprünglicher als die mondäne Interpretation der Dietrich.
    Sie spielte und summte, und schließlich sang sie auch, sie sang den deutschen Text mit ihrer zittrigen Stimme, bis sie sich unvermittelt selbst aus dem Zauber riss.
    «Still, Dolly!»
    Sie kniff die Augen zu, und ihr Gesicht schien in sich zusammenzustürzen. Mit vorgebeugtem Kopf und ergeben gesenktem Kinn beugte sie sich einer Erinnerung, die sich meiner Vorstellung entzog.
    Dann war sie fort. Obwohl sie noch lebte, war sie fort.
    Ich blieb noch eine Zeitlang neben ihr sitzen, hielt ihre Hand und betrachtete die trockene, zarte Haut, spürte die Reste ihrer schwindenden Gegenwart. Ich schloss die Augen und versuchte, meine Mutter spüren zu lassen, dass es mich gab, mich, den Beweis ihres Überlebens, dass ich hier bei ihr war. Aber ich wusste nicht, ob sie mich überhaupt wahrnahm.
    «Mama», flüsterte ich in der Hoffnung, dass sie mich hörte. «Ich brauche dich.» Doch sie schwieg.
    Schließlich ließ ich ihre Hand los, legte sie sanft zurück in ihren Schoß, wo sie sich sofort zur Faust ballte, und machte mich viel zu früh auf den Weg zu meinem Nachmittagstermin bei Jed Stevens.

KAPITEL 9
    Das Büro der Beratungsfirma, die Courtney für mich ausfindig gemacht hatte, befand sich in einem Sandsteinbau an der East 83rd Street. Von außen wirkte es wie ein typisches Stadthaus in Manhattan, mit seiner bräunlichen Fassade, den hohen Fenstern unter hölzernen Fensterstürzen und den übergroßen mediterran angehauchten Blumenkästen, in denen bronzefarbene Chrysanthemen blühten. Nur ein kleines Schild mit der Aufschrift
MacDonald & Tierney
an der Tür wies in dieser Wohngegend auf die Firma hin.
    Courtney wartete schon vor dem Haus, als ich ankam. Sie musste vorher einen beruflichen Termin gehabt haben, denn sie war sehr elegant nach der neuesten Herbstmode gekleidet: ein kurzer Rock aus leichtem Tweedstoff, der die Rot-, Braun-, Gelb- und Orangetöne des schwindenden Sommers einfing – den passenden Blazer trug sie über dem Arm   –, eine transparente pfirsichfarbene Bluse über einem braunen Top und braune Lacklederpumps. Niemand sonst hätte es geschafft, im Geschäftskostüm so sexy auszusehen. An den Ohren trug sie große, goldene Kreolen, das glänzende Haar floss ihr den Rücken hinab. Als ich aus dem Taxi stieg, kam sie mir entgegen, küsste mich auf die Wange, hakte sich bei mir ein und führte mich ins Haus.
    Als wir durch die Tür in den Empfangsbereich traten, blieb uns beiden der Mund offen stehen. Der komplett renovierte Innenraum wirkte wie eine kubistische Interpretation heller, offener Räume, auf den ersten Blick etwas irritierend, dann aber unglaublich beeindruckend. Die klassische, etwa neunzig Quadratmeter umfassende Grundfläche des Hauses war mit Hilfe von Glaswänden und Galerien in eine Reihe lichtdurchfluteter, quadratischer Räume unterteilt.
    Wir sagten der Empfangsdame, dass wir einen Termin bei Jed Stevens hätten, und sie gab ihm über die Gegensprechanlage Bescheid. Dann führte sie uns zwei Treppen hinauf in ein kleines Besprechungszimmer, dessen mattierte Glaswände eine abgeschiedene, intime Atmosphäre schafften. Durch das Oberlicht in der Decke fiel etwas Sonne herein. Am oberen Tischende stand ein sorgsam zugeklappter Laptop.
    Kurze Zeit später kam Jed Stevens herein, einen glänzend blauen Ordner mit eingeprägtem Firmenlogo in der Hand. Mein erster Gedanke war:
Der ist doch nicht älter als zwölf!
Dann sah ich, dass er wohl doch ein wenig älter sein musste, denn die Wangen seines ebenmäßigen, auf den zweiten Blick bemerkenswert attraktiven Gesichts waren rau vom modisch obligatorischen Dreitagebart. Er hatte perfekt frisiertes, goldblondes Haar und zarte Fältchen um die babyblauen Augen. Ich schätzte ihn auf fünf-, maximal achtundzwanzig. Falls er doch schon dreißig war, würde er gutes Geld damit machen, sein Genmaterial meistbietend zu versteigern. In seinem Designeranzug und der fliederfarbenen Krawatte sah er einfach viel zu umwerfend aus, um mir ernsthaft helfen zu können.
    Seine Stimme hatte schon am Telefon erschreckend

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