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Nur 15 Sekunden

Nur 15 Sekunden

Titel: Nur 15 Sekunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Pepper
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gebeugt, trug ein sorgfältig gebügeltes gelbes Hemd und einen Gürtel, der eher auf den Rippen als in der Taille saß. «Wir haben heute Morgen ja auch nichts zum Frühstück bekommen.»
    «Du hast doch Haferbrei gegessen, Frank», sagte Leah, die wohl gerade beim Friseur gewesen war: Ihr sonst stahlgraues Haar schimmerte bläulich.
    Unter weiterem wirren Geplauder verließen sie das Zimmer, und ich hörte jemanden fragen: «Wer war denn diese Frau?» Sie hatten mich schon wieder vergessen.
    Meine Mutter trug eine schwarze Hose mit Gummizug in der Taille; ich hatte ihr ein paar davon gekauft, weil sie einfach bequemer waren. Ihre rosafarbene Bluse war falschzugeknöpft, sodass der Kragen links etwas weiter herunterhing. Außerdem trug sie ihre Perlenkette, vermutlich auf Anregung der Pflegerin, weil sie ja heute Besuch bekam.
    Ich zog mir einen Stuhl heran, setzte mich und griff nach ihrer knochigen Hand. Sie lag noch leichter in meiner als bei meinem letzten Besuch. Hatte meine Mutter im Lauf der Woche abgenommen? Das war doch kaum möglich. Sie sah weiter zum Fenster hinaus, schien mich gar nicht wahrzunehmen. Im Profil wirkte sie tatsächlich hagerer, die Hügel und Täler ihres Gesichts waren ausgeprägter. Die Sonne schien ihr direkt ins Gesicht, sodass ihre Haut noch durchscheinender wirkte, die kleinen Äderchen unter den Augen sichtbar wurden und die knochige Nasenspitze hervorstach. Die Augen tränten ein wenig und blickten in die Ferne, hinaus auf den Hudson River mit den Wohnhäusern von New Jersey am anderen Ufer. Auf dem Wasser trieb ein Segelboot, doch meine Mutter schien es nicht zu sehen. Schlief sie etwa mit offenen Augen in ihrem Sessel?
    «Mama?»
    Jetzt reagierten ihre Finger, erst der Daumen, dann die anderen vier, sie spielten Tonleitern auf meiner Handfläche. Als Kind hatte sie Klavier gespielt, bis   …
    «Marta, Liebes. Wir üben heute einfach ohne Instrumente.»
    «Mama, ich bin es. Darcy.»
    «Genau. So bleiben die Hände kräftig.»
    «Ich bin deine Tochter.»
    «Wir wollen so tun, als wären unsere Kleider sauber.»
    «Ich bin’s, Darcy!»
    «Und unsere Schuhe frisch geputzt.» Sie kicherte wie ein junges Mädchen. «Als hätten wir überhaupt Schuhe!»
    Da wusste ich: Meine Mutter war nicht hier bei mir in diesem Zimmer. Und sie war auch nicht mehr meine Mutter.
    «Wir werden einfach barfuß tanzen, wenn uns keiner zusieht. Was Isadora Duncan konnte, können wir schon lange.» Ihre Füße bewegten sich leicht auf dem Teppich, wanderten fast unmerklich hin und her. Dann sagte sie mit einer Stimme, die mich in ihrem entschlossenen Ton überraschte: «Wir müssen uns immer bewegen, verstehst du nicht, Rosa?»
    Wer waren Marta und Rosa?
    «Kein Mensch wird diese Tränen sehen. Hör auf zu weinen. Das hilft doch nichts. Gib mir die Hand, Lara.»
    In den Augen meiner Mutter sah ich die jungen Mädchen zusammen in einer dunklen Baracke tanzen – sie sagten damals «Blocks» dazu, ich erinnerte mich, dass mein Vater mir das erzählt hatte. Sie nutzten wohl einen der seltenen unbeobachteten Momente. Eva, Marta, Rosa und Lara bildeten einen Kreis, sie hielten sich an den Händen, machten Tanzschritte auf dem dreckigen Boden.
    Jetzt summte meine Mutter ein Liedchen vor sich hin, eine Melodie, die ich aus meiner Kindheit kannte. Einmal hatte ich sie gefragt, wie das Lied hieß, und sie hatte schon zu einer Antwort angesetzt, dann aber behauptet, sie habe den Titel vergessen.
    «Was ist das für ein Lied, Eva?», fragte ich sie jetzt.
    «Bist du noch gescheit, Dolly Bergheim?»
    Eva, Marta, Rosa, Lara und Dolly. Das mussten die Mädchen sein, mit denen sie die Zeit im Lager verbracht hatte. Sie hatte nie viel von ihnen gesprochen. Manchmal hatte sie mir vom Einfallsreichtum der gefangenen Kinder erzählt, die jede Möglichkeit zum Spielen nutzten, die sie finden konnten, natürlich immer ganz heimlich. Doch nie zuvor hatte sie Namen genannt. Ich kannte nur Bertha, die einzige Freundin von damals, die auch überlebt hatte.
    «Sing das Lied für mich, Eva», bat ich.
    Ihre Finger auf meiner Handfläche wurden schneller. «Ich werde es für dich spielen.»
    Fast hörte ich das Klavier aus meiner Kindheit, wie es unter ihren sanften Berührungen erklang. Sie spielte das Lied, dessen Titel sie angeblich nicht mehr wusste, schien sich an die Melodie aber ganz genau zu erinnern.
    «Wie heißt dieses Lied, Eva?»
    «Wie kannst du das bloß vergessen haben, Dolly?»
    «Ich kenne es ja.»
    «
Das

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