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Nur 15 Sekunden

Nur 15 Sekunden

Titel: Nur 15 Sekunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Pepper
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Verbrechen, das find ich ziemlich cool», fügte er hinzu.
    Cool?
    Es klingelte erneut.
    «Mr.   Salter wartet», sagte ich. «Hast du dein Handy eingeschaltet?»
    Keine Antwort. Ben stellte seine Müslischüssel in die Spüle und ging aus der Küche. Ich hörte, wie er Rich begrüßte, dann waren sie beide verschwunden.
    «Das Rad weiterdrehen» – das hatte meine Mutter immer gesagt, wenn es schwer erschien, einen weiteren Tag zu überstehen. «Dreh das Rad einfach weiter, Karl. Immer weiter. Denk nicht so viel nach.»
    «Nicht denken, Eva, das ist einfach un-mög-lich.» Mein Vater spaltete das Wort in einzelne Silben auf, um ihm das nötige Gewicht zu verleihen. «Unser Gehirn ist wie ein Filter. Es behält alles Schlimme zurück. Aber es erhält uns auch am Leben.»
    «Dann leb doch. Mehr braucht es nicht.» Sie setzte seinen schweren Worten einfache, einsilbige entgegen. Sie wollte, dass er seine Erinnerungen endlich ablegte. Doch das gelang ihm nicht. Und diesen Konflikt konnten sie niemals lösen.
    Den ganzen Donnerstag über bemühte ich mich, das Rad weiterzudrehen. «Immer weiter», schärfte ich mir ein, immer weiter und weiter. Doch das Rad schien eher mich zu drehen. Mittags fand ich mich apathisch vor dem Fernseher wieder, verzweifelt bemüht, nicht nachzudenken. Doch offenbar fehlten mir die Entschlossenheit und die Klarsicht meiner Mutter. Auch ich konnte nicht
nicht
denken. Denken machte mich aus, es verschaffte mir ebenso viel Befriedigung, Erleichterung und Freude, wie es Kummer, Sorge und Angst verursachte. Doch als das Telefon wieder anfing, ununterbrochen in Zehner-Intervallen zu klingeln, hielt ich es einfach nicht mehr aus, tatenlos in freiwilliger Gefangenschaft zu verharren. Ich sprang vom Sofa auf, griff nach meiner Handtasche und rannte aus dem Haus. Mein einziges Zugeständnis an die Vernunft war, die Haustür hinter mir abzuschließen.
    Ich würde durch die Straßen meines Viertels laufen, Joe zum Trotz. Oder besser, meiner Angst vor Joe zum Trotz, dem Gedanken zum Trotz, dass seine Macht mich lähmte. Wie hatte das innerhalb so kurzer Zeit passieren können? Dann fiel mir die Kiste wieder ein. Er beschäftigte sich schon sehr viel länger mit mir, als mir klar gewesen war. Er arbeitete an mir wie an einem Projekt. Es war eine Art trotziger Selbstversuch, einfach grundlos nach draußen zu gehen und ziellos durch die Gegend zu laufen. Ich wollte wissen, ob ich den Gedanken verdrängen konnte, ständig beobachtet zu werden, immer in Gefahr zu sein.
    Unterwegs sammelte ich genügend Kraft und Mut, um mir einzureden, dass es Joe nicht gab. Stattdessen dachte ich an Hugo, stellte mir vor, er wäre noch am Leben. Im Geiste erzählte ich ihm alles, was ich sah, damit er es ebenfalls sehen konnte.
    Die Pizzeria an der Ecke mit den drei Tischen vor der Tür, wo eine Mutter mit ihrem Kleinkind zu Mittag aß.
    Der Haushaltswarenladen, dessen Angebote bis weit auf den Bürgersteig hinausragten.
    Die Boutique mit den spitzen Schuhen und den riesigen Plastikarmreifen im Fenster.
    Der vietnamesische Imbiss, der «Bubble Tea» anbot.
    «Bubble Tea? Was soll denn das sein?», hörte ich Hugo in meinem Kopf fragen.
    «Ich habe das Wort auch noch nie gehört, bevor ich hierherkam.»
    «Wo bist du denn?»
    «Ich war viel unterwegs, aber jetzt bin ich wieder zu Hause. Auf der Insel, in unserem Haus. Zusammen mit dir.»
    «Fahr nicht mehr ohne mich weg.»
    «Keine zehn Pferde werden mich dazu bringen, noch einmal ohne dich zu verreisen.»
    «Du hast mir gefehlt.»
    «Du mir auch.»
    Ich kaufte mir einen Bubble Tea, um herauszufinden, was es war: ein süßliches Mischgetränk mit Zuckerperlen aus Maniokstärke. Bubble Tea. Nun wusste ich das also.
    «Es gibt immer wieder etwas Neues zu lernen», hatte meine Mutter oft zu meinem Vater gesagt. «Hör endlich auf, an die Vergangenheit zu denken. Die ist nur eine Illusion. Konzentrier dich auf die Gegenwart. Unternimm etwas Besonderes. Beschäftige dich mit etwas Neuem.» Meine Mutter war trotz ihrer schrecklichen Erlebnisse von Grund auf optimistisch.
    «Ein Hobby», drängte sie ihn – irgendetwas, was ihn von der Vergangenheit ablenken würde.
    Als Kind von Holocaust-Überlebenden war mir unser Sonderstatus stets bewusst gewesen. Wir saßen zwischen allen Stühlen, durften weder richtig glücklich noch richtig unglücklich sein. Als Witwe, musste ich feststellen, war es ganz ähnlich. Man schwebte zwischen zwei Welten, zwischen der früheren und jener

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