Nur Der Mann Im Mond Schaut Zu:
überfiel ihn ein Gefühl von Unwirklichkeit. Das konnte nicht wahr sein, nicht auch das noch. Er hatte nicht mehr die Kraft, darauf zu reagieren, hätte auch gar nicht gewusst, wie er reagieren sollte, wusste nicht, ob er schockiert oder eher erleichtert war. Erleichtert, weil ihm die Situation vertraut war, erleichtert, weil er jetzt Gewissheit hatte, dass das Gleichgewicht des Schreckens wiederhergestellt war.
»Hübsches Mädchen übrigens.«
Jocke bekam kein Wort über die Lippen.
»Die auf dem Klo, meine ich. Die Leiche. Ein bisschen schlampig für meinen Geschmack. Hat sich wohl ein bisschen zu weit aus dem Fenster gelehnt, wenn man das so sagen kann.«
Erst jetzt hörte er, erst jetzt verstand er, was er sah und hörte.
»Papa, das war Jennifer. Meine Jennifer«, sagte er still.
»Hab ich’s nicht geahnt«, sagte sein Vater mit einem höhnischen Lächeln. »Kam mir doch gleich so bekannt vor, der Name.«
»Haben sie dich verhört?«, fragte Jocke.
»Na ja, verhört. Sie haben mich nach meinem Namen gefragt und nach meiner Adresse und ob ich irgendetwas weiß. Und dann haben sie mir Fotos gezeigt und mich gefragt, ob ich das Mädchen kennen würde. Und ich habe gesagt, dass ich sie nicht kenne. Und dann war es auch schon vorbei. Und bei dir?«
»Sie war meine Freundin, Papa. Natürlich haben sie mich verhört. Ich habe den … Leichnam gesehen.«
Er wandte den Blick ab und richtete ihn erneut irgendwo in die Weite außerhalb des Fensters.
»Ich verstehe«, sagte sein Vater, »wahrscheinlich, als du sie umgebracht hast.«
Jocke zuckte zusammen und schaute seinem Vater direkt in die Augen.
»Ich habe sie nicht umgebracht«, fauchte er. »Warum sagst du so etwas?«
Der Vater antwortete ihm lediglich mit einem heimtückischen Lächeln.
»Was machst du überhaupt hier?«
»Was ich hier mache? Dich im Auge behalten natürlich. Wenn ich mich recht erinnere, hatte ich dir verboten, auf diese Reise zu gehen.«
»Und was ist mit Mama?«, fiel Jocke plötzlich ein. »Du kannst sie doch nicht einfach allein lassen?«
»Kann ich nicht? Du hast sie doch auch allein gelassen.«
Sein Vater lachte ihm schadenfroh ins Gesicht.
»Das habe ich nicht! Du warst doch zu Hause. Sie muss doch betreut werden …«
»Sie wird schon nicht verhungern«, fiel ihm sein Vater ins Wort.
Jocke sprang auf und ging fort, die brennenden Blicke seines Vaters folgten ihm.
Sonntagnachmittag
S tühle schrammten über den Parkettboden, und Schreibblöcke knallten auf den Tisch. Ausnahmsweise waren alle pünktlich zur Besprechung im blauen, ovalen Raum in der Östgötagatan 100 erschienen. Das hatte einen einfachen Grund. Sie waren alle gemeinsam gekommen, aus der McDonald’s-Filiale in der Götgatan, abgesehen von Bella Hansson, die aus der Rechtsmedizin kam, und Hadar Rosén, der aus seinem Wochenendhaus in Roslagen anreisen musste. Statt des gewohnten grauen Anzugs trug er an diesem Tag Jeanshosen, ein kariertes Flanellhemd und Gummistiefel. Er sah aus, als wäre er direkt aus dem Gemüsegarten ins Auto gestiegen. Mit seinem fast zwei Meter langen Körper lag er mehr auf dem Stuhl, als dass er saß, während Sjöberg das Wort ergriff:
»Tut mir leid für das verdorbene Wochenende, Hadar. Für euch anderen natürlich auch. Aber dieser Fall hat absolute Priorität, wie ihr sicherlich versteht. Wenn Westman zunächst alles zusammenfassen möchte, bevor wir gemeinsam versuchen, uns ein Bild von den Geschehnissen zu machen.«
Petra, die den ganzen Vormittag in dünnen Sportklamotten im Freien verbracht hatte, legte ihre Hände fest um ihren Teebecher, um sich ein wenig aufzuwärmen. Sie hatte immer noch keine Zeit gefunden, sich nach ihrer Joggingtour zu duschen und umzuziehen. Aber auch Bella Hansson und Hamad trugen Trainingsanzüge und sahen ungeduscht aus. Sie wusste, dass Hansson den Morgen auf dem Tennisplatz verbracht hatte, aber als Hamad ebenfalls im Trainingsanzug auftauchte, beschlich sie das Gefühl, dass er ebenfalls von dort gekommen war. Aus irgendeinem Grund gefiel ihr dieser Gedanke nicht.
Petra erzählte ihre Geschichte und wurde nur einmal unterbrochen, als Rosén eine Frage stellte.
»Wir haben einen etwa fünf Monate alten Jungen, der im Karolinska-Krankenhaus um sein Leben kämpft«, fasste sie zum Abschluss noch einmal zusammen. »Der Junge scheint keiner Gewalt ausgesetzt gewesen zu sein, aber er ist dehydriert und unterkühlt. Er muss eine Weile dort gelegen haben, bevor wir ihn fanden. Wir haben
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