Nur Der Tod Bringt Vergebung
genannt wurde, war sie vor acht Jahren zum erstenmal aufgetreten – eingeleitet, wie die Gelehrten behaupteten, von einer totalen Sonnenfinsternis. Sie griff vor allem im Hochsommer um sich und hatte bereits die Hälfte der irischen Bevölkerung dahingerafft. Zwei Hochkönige, die Provinzkönige von Ulster und Munster sowie zahlreiche andere Persönlichkeiten von Rang zählten zu ihren Opfern, und auch kirchliche Würdenträger wie Fechin von Fobhar, Ronan, Aileran der Weise, Cronan, Manchan und Ultan von Clonard waren ihr erlegen. Ja, es waren so viele Eltern gestorben und hatten hungernde Kinder zurückgelassen, daß Ultan von Ardbraccan ein Waisenhaus eröffnet hatte, um den jüngsten Opfern der Seuche Obdach zu geben und sie zu nähren.
Fidelma kannte die Schrecken der Gelben Pest.
«Steht Euer sächsisches Volk denn so wenig über den Tieren?» schnaubte Fidelma. «Wie kann es zu seinen eigenen Mitgeschöpfen so unbarmherzig sein? Und schlimmer noch, wie können Brüder und Schwestern Christi dabeistehen und seelenruhig zuschauen, als ob es um eine Belustigung auf einem Jahrmarkt ginge?»
Die anderen Glaubensbrüder und -schwestern hatten mit einem gleichgültigen Achselzucken ihre Plätze an den Fenstern verlassen und waren zu ihren jeweiligen Aufgaben zurückgekehrt. Falls sie Fidelmas unmißverständlichen Tadel gehört hatten, ließen sie es sich nicht anmerken.
«Eure Sitten sind nicht unsere Sitten», entgegnete Eadulf geduldig. «Soviel habe ich inzwischen gelernt. Ich habe die Zufluchtsstätten für Kranke und Schwache in Irland gesehen. Vielleicht werden wir eines Tages von Euch lernen. Doch jetzt befindet Ihr Euch in einem Land, in dem sich die Menschen vor Tod und Krankheit fürchten. Und die Gelbe Pest gilt als allergrößtes Übel, das alle dahinrafft, die sich ihm entgegenstellen. Was den Menschen angst macht, wollen sie zerstören. Ich habe Söhne gesehen, die ihre eigenen Mütter mitten im Winter aus dem Haus geworfen haben, weil bei ihnen Anzeichen der Seuche aufgetreten sind.»
Fidelma wollte widersprechen, doch was war der Sinn? Eadulf hatte recht. Die Sitten Northumbriens waren anders als die ihres Heimatlandes.
«Laßt uns mit Seaxwulf sprechen», sagte sie und wandte sich vom Fenster ab.
Draußen war das Geschrei inzwischen verebbt. Die Leute hatten ihre Steine fallen gelassen und sich wieder den Vergnügungen des Marktes zugewandt. Das reglose Lumpenbündel lag unbeachtet im Schlamm.
Als Seaxwulf den Raum betrat, erkannte Fidelma in ihm sofort den jungen Mann mit dem strohblonden Haar, der im sacrarium neben Wilfrid gestanden hatte.
Seaxwulf war ein schlanker, junger Mann mit einem hübschen, ebenmäßigen Gesicht, der verlegen kicherte, sobald jemand unmittelbar das Wort an ihn richtete. Er hatte hellblaue Augen und die seltsame Angewohnheit zu zwinkern, während er lispelnd und mit auffallend hoher Stimme sprach. Fidelma mußte sich mehrmals ins Gedächtnis rufen, daß ihr ein Mann und kein kokettes Mädchen gegenübersaß. Die Natur schien dem jungen Mann durch eine seltsame Unentschlossenheit in der Frage des Geschlechts einen grausamen Streich gespielt zu haben. Sein Alter war schwer festzustellen, doch sie schätzte ihn auf Anfang Zwanzig, obwohl sein Bartflaum nicht den Eindruck machte, als hätte er sich je rasieren müssen.
Es war Bruder Eadulf, der den jungen Mann auf sächsisch befragte, während Fidelma sich große Mühe gab, mit ihren unzureichenden, aber stetig wachsenden Kenntnissen dieser Sprache der Unterhaltung zu folgen.
«Ihr seid am Tage ihres Todes bei Äbtissin Étain gewesen», eröffnete Eadulf mit einer einfachen Feststellung das Gespräch.
Seaxwulf kicherte und schlug eine schlanke Hand vor den Mund. Über seine Fingerspitzen hinweg warf er ihnen schelmische Blicke zu.
«Ach ja?»
Seine Stimme klang merkwürdig sinnlich.
Eadulf schnaubte angewidert.
«Aus welchem Grund habt Ihr die Äbtissin in ihrer Zelle aufgesucht?»
Seaxwulf klapperte wieder mit den Wimpern und stieß ein erneutes Kichern aus.
«Das ist mein Geheimnis.»
«Ist es nicht», widersprach Eadulf streng. «Wir haben den Auftrag Eures Königs, Eures Bischofs und der Äbtissin dieses Klosters, die Wahrheit aufzudecken. Ihr seid durch Euer Gelübde dazu verpflichtet, uns alles mitzuteilen, was Ihr wißt.»
Seaxwulf blinzelte und zog in gespielter Verärgerung einen Schmollmund.
«Also gut, meinetwegen!» Seine Stimme klang wie die eines eingeschnappten Kindes. «Ich habe die
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