Nur Der Tod Kann Dich Retten
und würde seinen Instinkt, seine Entschlossenheit und seine Fähigkeiten verspotten. John war nun seit fast zwanzig Jahren bei der Polizei und musste den Wert seiner Arbeit noch immer von Idioten wie Sean Wilson anzweifeln lassen. Vielleicht weil er ihn regelmäßig selbst in Zweifel zog, ging es ihm durch den Kopf, und er begriff, dass er, wenn in ihrer Mitte tatsächlich ein Serienmörder sein Unwesen trieb und er ihn ergreifen würde, nicht mehr als übergewichtiger Sheriff eines kleinen Südstaatenkaffs betrachtet würde, der seine besten Jahre hinter sich hatte. Sahen die anderen ihn wirklich so?, fragte er sich. Und hatte er noch die Kraft, etwas an dieser Wahrnehmung zu ändern?
Eine Frauenstimme durchschnitt die Dunkelheit. »Sheriff?«
Er drehte sich um. »Mrs. Crosbie.«
»Bitte, nennen Sie mich Sandy.«
Er versuchte zu lächeln. »Was kann ich für Sie tun, Sandy?«
»Ist alles in Ordnung?«
»Fürs Erste. Vielleicht muss ich Ihnen morgen noch ein paar Fragen stellen.«
»Selbstverständlich. Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann. Sheriff«, setzte sie noch einmal an, bevor er sich abwenden konnte.
»Ja?«
»Der Anruf eben...«
»Ja?«
»Es war Rita Hensen.«
Die Schulkrankenschwester, dachte John und sah die winzige Frau vor sich. John war es gewesen, der vor drei Jahren den Knoten um den Hals ihres Mannes gelöst hatte, und er bezweifelte, dass es ihm je gelingen würde, den Anblick seines leblos in der Duschkabine hängenden Körpers ganz aus seiner Erinnerung zu tilgen. »Gibt es ein Problem?«
»Na ja, ich weiß nicht, ob ich Ihnen das erzählen sollte...«
»Was?«
»Ich will nicht, dass Brian Probleme kriegt. Er ist ein sehr netter Junge, sehr sensibel, und ich bin sicher, dass er nichts Unrechtes getan hat, aber nach allem, was geschehen ist...«
»Mrs. Crosbie... Sandy«, korrigierte John sich. »Was haben Sie mir zu sagen?«
»Rita hat eben angerufen. Sie war sehr aufgewühlt.«
»Hat Brian irgendwas angestellt?« Das war wie Zähne ziehen, dachte John. Nur schmerzhafter.
»Das ist es ja eben. Sie weiß es nicht genau. Er redet nicht mit ihr.«
»Und wie kommt sie darauf, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist?«
Wieder zögerte Sandy. Dann sprudelten die Worte in einem Schwall aus ihrem Mund wie aus einem umgestoßenen Glas. »Nun ja, seit Lianas Totenwache ist er sehr verschlossen. Offensichtlich bekümmert ihn irgendwas, aber er weigert sich, darüber zu reden. Anfangs dachte Rita, das Ganze hätte vielleicht Erinnerungen an den Tod seines Vaters geweckt. Er schläft schlecht. Er ist die ganze Nacht wach. Manchmal verlässt er mitten in der Nacht das Haus.«
»Was ist heute Abend passiert?«, fragte John, weil er ahnte, dass es einen konkreten Grund für Ritas Anruf gab.
»Brian ist weggegangen, ohne ihr zu sagen, wohin. Er war mehr als eine Stunde weg, und als er zurückkam, ist er direkt ins Bad gegangen. Rita hat gehört, wie stundenlang das Wasser lief, und als er schließlich herauskam, sah sie, dass er sein Hemd ausgewaschen hatte, und...«
»Und?«
»Das fand sie sehr eigenartig, weil er so etwas sonst nie macht, und dann hat sie die roten Tropfen auf dem Boden gesehen und erkannt, dass es Blut war.«
»Ist sie sicher, dass es Blut war?«
»Das habe ich sie auch gefragt. Sie meinte, sie sei Krankenschwester und wisse, wie Blut aussieht. Außerdem hat sie gesagt, dass Brian Schürfwunden an der Hand und Kratzer im Gesicht hatte.«
»Er könnte gestolpert sein. Er könnte in eine Schlägerei geraten sein. Er könnte gegen eine Tür gelaufen sein«, entgegnete John und dachte an Joey Balfour. Der Abend wurde immer verrückter. »Es gibt hunderte von plausiblen Erklärungen. Wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen.« Aber noch während er das sagte, fragte John sich, ob es möglich war, dass Brian Hensen etwas mit dem Verschwinden von Fiona Hamilton zu tun hatte. War es möglich, dass er sie unter irgendeinem Vorwand aus dem Haus gelockt und womöglich sogar getötet hatte, und dass dieser schüchterne, sensible, siebzehnjährige Junge, dessen Vater sich vor drei Jahren umgebracht hatte, auch Liana Martin und Candy Abbot ermordet hatte?
»Das habe ich auch versucht, ihr zu erklären«, sagte Sandy.
»Was?«
»Das, was Sie gerade gesagt haben – dass es jede Menge mögliche Erklärungen gibt und sie keine voreiligen Schlüsse ziehen soll.«
»Was war Brians Erklärung?«
»Gar keine. Als Rita ihn befragt hat, hat er ihr einen Haufen Schimpfwörter an
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