Nur der Tod sühnt deine Schuld
ganz allein miteinander sein, und Haley wünschte, sie könnte Mollys Gedanken lesen. Fürchtete sie sich davor, mit ihrer Tante allein zu sein? Hatte sie Angst davor, das Haus ihrer Pflegeeltern zu verlassen? Ihr hübsches, unbewegtes Gesicht ließ keinerlei Rückschlüsse zu.
Haley hatte es Selma überlassen, Molly zu erklären, dass sie heute einen freundlichen Mann aufsuchen würden, der mit ihr reden wollte. »Vielleicht können wir nach dem Besuch bei Dr.Tredwell und vor der Beerdigung irgendwo Pizza essen«, sagte Haley, als sie im Auto saßen und in Richtung Kansas City fuhren, wo Dr.Tredwell seine Praxis hatte. Haley erwartete keine Antwort. Sie bekam auch keine.
Molly wandte sich von ihr ab und starrte aus dem Seitenfenster. Haley krallte die Finger um das Lenkrad. Sie hatte das Gefühl, dem kleinen Mädchen seit dem Tag ihrer Ankunft in Pleasant Hill keinen Deut nähergekommen zu sein.
»Falls du keine Pizza magst, können wir auch zu McDonald’s gehen, und dann kriegst du so ein Happy-Dingsbums«, sagte Haley. Wäre es nicht wunderbar, wenn ein Happy Meal Molly wieder glücklich machen könnte? Haley würde ihr zehn von diesen abgepackten Kindermenüs mit Überraschungsspielzeug kaufen, wenn sie nur einen Funken Hoffnung hätte, dass es funktionierte.
Kaum hatte sie den Vorschlag gemacht, hätte sie sich am liebsten in den Hintern getreten. Kein Happy Meal von McDonald’s konnte Molly darüber hinwegtrösten, dass sie zur Beerdigung ihrer eigenen Mutter musste.
Während der halbstündigen Fahrt redete Haley pausenlos in der Hoffnung, ihrer Nichte auf die Art eine Reaktion entlocken zu können. Sie sprach über das Wetter und sagte, wie nett die Roberts zu sein schienen. Sie erzählte, was sie zum Frühstück gegessen hatte und dass sie Fast Food über alles liebte.
Die ganze Zeit über saß Molly stocksteif auf dem Beifahrersitz und schaute aus dem Seitenfenster. Als sie schließlich die Innenstadt von Kansas City erreichten, stieß Haley einen frustrierten Seufzer aus und verstummte.
Die Praxis von Dr.Tredwell lag in einem achtstöckigen Gebäude aus Glas und Stahl in unmittelbarer Nähe des Broadways. Haley hatte Glück und fand nur einen Block entfernt einen Parkplatz. Sie fütterte den Parkautomaten mit genügend 25 -Cent-Stücken, um den Wagen etwas mehr als eine Stunde stehen lassen zu können. Dann machten sie und Molly sich auf den Weg.
Während sie die Straße entlanggingen, hatte Molly die Hände in den Jeanstaschen und die Schultern hochgezogen: eine winzige Insel, allein in einem Meer aus Trauer und Angst.
Seit der ersten verzweifelten Umarmung am Tag von Haleys Ankunft hatte Molly kein einziges Mal die Hand nach ihr ausgestreckt. Es war, als wüsste sie, dass sie sich nicht auf Haley verlassen konnte.
Die Praxis von Dr.Tredwell lag im sechsten Stock. Sie betraten einen kleinen Wartebereich mit Empfangstheke, und die Praxishelferin mittleren Alters begrüßte sie mit einem Lächeln. »Hier sind einige Formulare, die Sie ausfüllen müssen«, sagte sie und gab Haley ein Klemmbrett mit mehreren Blatt Papier.
Haley setzte sich auf einen der Stühle, um die Fragebögen auszufüllen. Molly setzte sich neben sie, eine Kinderzeitschrift auf dem Schoß.
Es dauerte genau zwei Minuten, bis Haley frustriert feststellte, dass sie die vielen Fragen zu Verhaltensänderungen, Schulleistungen oder Spielgewohnheiten der kleinen Patientin gar nicht beantworten konnte.
Wieder einmal verblüffte es sie, dass sie so gut wie nichts über ihre Nichte wusste. Was machte Molly in ihrer Freizeit am liebsten? Wie war sie in der Schule? Nässte sie noch ein? Hatte sie nervöse Angewohnheiten? War sie eine gute Esserin?
Haley füllte die Formulare so gut sie konnte aus und gab sie dann der Praxishelferin zurück. Während sie darauf warteten, zu Dr.Tredwell hereingerufen zu werden, sah Haley sich interessiert im Wartebereich um.
Die Praxis schien gut zu gehen. Die Stühle waren gepolstert und mit einem dicken, cranberryfarbenen Stoff bezogen, abgestimmt auf die in zartem Beige gestrichenen Wände, an denen idyllische Landschaften in schweren Goldrahmen hingen.
Haley vermutete, dass die meisten Menschen das Ambiente beruhigend finden würden, aber sie war höllisch nervös. Monica hatte ihr mehr als einmal geraten, eine Therapie zu machen, um herauszufinden, woher ihre Bindungsängste kamen, warum sie nicht nur zu ihren Lovern, sondern auch zu Freunden flüchtige, oberflächliche Beziehungen
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