Nur der Tod sühnt deine Schuld
um sich umzuziehen.
Als sie ihr Spiegelbild sah, schnappte sie nach Luft. Ihr Gesicht und ihre Haare waren voller Mehl, so dass sie aussah wie eine dünne, verängstigte Version des Knack&Back-Männchens.
Während sie sich das Gesicht wusch und die Haare bürstete, um das Mehl, so gut es ging, zu entfernen, versuchte sie, an nichts zu denken, doch es klappte einfach nicht.
Jemand war in ihrem Haus gewesen. Der Gedanke ging ihr immer wieder durch den Kopf.
Jemand hatte sich hereingeschlichen. Mitten in der Nacht.
Wie war er hereingekommen? Durch ein Fenster? Haley hatte nicht daran gedacht zu überprüfen, ob alle verriegelt waren.
Oder war es jemand gewesen, der einen Schlüssel zum Haus hatte?
Der Gedanke erschreckte Haley, allerdings auch nicht mehr als der Vorfall selbst. Es war heimtückisch. Es war bösartig. Wenn Haley nicht aufgewacht wäre, wären sie und Molly womöglich im Rauch erstickt.
Wenn sie nicht aufgewacht wäre, wäre das Haus womöglich abgebrannt, und ihren Tod hätte man dann für einen tragischen Unfall gehalten.
Haleys Hände zitterten so heftig, dass sie kaum ihre Jeans hochziehen konnte. War Monicas Mörder der Täter? Hatte er versucht, Molly für immer zum Schweigen zu bringen?
Wer hatte einen Schlüssel zum Haus? Bisher war Haley der Gedanke gar nicht gekommen, dass die Schlösser der beiden Türen immer noch dieselben waren wie zum Zeitpunkt des Mordes an ihrer Schwester. Vielleicht hatte Monica ihrem Mörder gar nicht die Tür geöffnet, und Molly hatte sich verhört. Vielleicht hatte der Mörder einen Schlüssel und war einfach hineinspaziert.
Wer war so schlecht, um eine solche Tat zu begehen? Hatte die Person, die die Pfanne auf den Herd gestellt und die Kochstelle eingeschaltet hatte, auch für die leere Batterie im Rauchmelder gesorgt?
Haley zog sich gerade das T-Shirt über den Kopf, als es läutete. Die Polizei war da.
Es war kurz vor halb vier Uhr morgens, als die beiden uniformierten Beamten Haleys Aussage aufgenommen und sich verabschiedet hatten.
»Kommen Sie alleine klar?«, fragte Frank, nachdem sie gegangen waren, und wandte sich zur Tür.
»Sie haben mir nicht geglaubt, oder?«, sagte Haley tonlos. Die Angst, die sie vorher gequält hatte, war zum Teil verflogen. Stattdessen hatte sich während des Gesprächs mit den Cops Frustration in ihr breitgemacht.
Frank fuhr sich mit der Hand durchs Haar und seufzte müde. »Sie haben Anzeige erstattet. Das ist das Wichtigste.«
»Sie glauben mir doch, Frank?« Haley sah ihn eindringlich an.
»Natürlich glaube ich Ihnen«, sagte er nach einem Moment des Zögerns. Doch dieses Zögern verriet ihr, dass er Zweifel hatte.
»Gehen Sie jetzt nach Hause und versuchen Sie, noch etwas Schlaf zu kriegen. Viel Zeit bleibt ja nicht mehr. Und danke für alles.«
Frank war kaum gegangen, da kehrte Haleys Angst zurück. Das Haus fühlte sich fremd an, wie eine Landschaft aus einem bösen Traum. Die Stille war ohrenbetäubend, und das Letzte, was Haley jetzt wollte, war, allein zu sein. Sie machte überall im Haus Licht, doch die Angst blieb.
Sie wollte duschen, um den Rauchgestank und das Mehl aus ihren Haaren zu waschen, aber die Vorstellung, unter einem Wasserstrahl zu stehen und nicht hören zu können, wenn jemand sich ins Haus schlich, war zu entsetzlich. Bilder aus
Psycho
schossen ihr durch den Kopf. Janet Leigh, wie sie durch den Duschvorhang hindurch erstochen wird.
Haley musste mit jemandem reden. Sie brauchte einen anderen Menschen in ihrer Nähe. Sie brauchte Grey.
Sie hielt sich gar nicht erst damit auf, sich den Gedanken auszureden, sondern kramte seine Telefonnummer aus ihrer Handtasche und rief ihn an.
Beim zweiten Klingeln meldete er sich. »Dr.Grey Banes.« Er hörte sich munter an, als hätte er neben dem Telefon gesessen und auf ihren Anruf gewartet.
»Grey, ich bin’s, Haley.«
»Was ist passiert? Ist alles in Ordnung? Ist irgendwas mit Molly?«
»Molly geht’s gut. Ich brauche … könnten Sie zu mir kommen?«
»Ich bin gleich da.«
Haley legte auf, dankbar, dass er keine unnötigen Fragen gestellt hatte. Sie wusste, dass er in einer Apartmentanlage ungefähr fünfzehn Minuten entfernt wohnte.
Während sie auf ihn wartete, setzte sie Kaffee auf. Dann nahm sie einen Topflappen, ergriff damit die Pfanne, die den Brand ausgelöst hatte, und ließ sie in einer Plastiktüte verschwinden, die sie auf den Trockner im Hausarbeitsraum legte.
Ihre Hände waren jetzt ruhig, aber das Zittern war
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