Nur der Tod sühnt deine Schuld
angefangen mit dem Tod ihres Vaters, einem schmerzlichen Verlust, den sie nie ganz überwunden hatte. Sie weinte um ihren Vater, ihre Mutter und ihre Schwester. Und endlich weinte sie auch um sich selbst und um Molly, weil sie nun ganz auf sich allein gestellt waren.
Schließlich waren alle Tränen geweint, war der Gefühlsausbruch vorbei, und sie blieb erschöpft auf dem Boden liegen, innerlich vollkommen leer.
Sie starrte an die weiße Decke und meinte, Greys Stimme zu hören.
Haley, wenn du möchtest, dass Molly dich bedingungslos liebt, musst du einen Weg finden, dich selbst zu lieben. Du musst lernen, dich zu öffnen, verwundbar zu sein. Ich habe das Gefühl, dass du noch nicht besonders gut darin bist.
»Was weiß der denn schon«, sagte sie laut und wischte sich mit dem Handrücken über die tränenfeuchten Augen, ohne auf ihre Wimperntusche zu achten.
Früher einmal hatte sie sich anderen Menschen geöffnet, war verwundbar gewesen. Ihren Daddy hatte sie abgöttisch geliebt. Doch als sie zehn war, hatte sie lernen müssen, dass es weh tat, wenn man verletzlich war. Wenn man sich öffnete, enttäuschte man andere und wurde enttäuscht.
Das wusste sie aus eigener leidvoller Erfahrung. Und nur weil Grey mit ihr geschlafen hatte, konnte er sich noch lange kein Urteil über sie erlauben.
»Das kommt davon, wenn man sich mit einem Therapeuten einlässt«, murmelte sie und zog den Karton wieder zu sich heran, um zu beenden, was sie angefangen hatte.
Ein Roman. Eine Schachtel Papiertücher. Ein hölzernes Schmuckkästchen, in dem sich neben ein paar billigen Halsketten und Armbändern auch der Ehering befand, den Monica schließlich abgelegt hatte, als Molly drei war. Haley stellte das Schmuckkästchen zur Seite, um es für Molly aufzubewahren.
Ein Klingeln an der Haustür unterbrach ihre Sortierarbeit. Als sie öffnete, stand Dean vor ihr. »Wow, ich wusste gar nicht, dass Sie auf Goth stehen«, sagte er.
»Wie bitte?« Dann verstand sie, dass er ihre Augen meinte, die wahrscheinlich mit schwarzer Wimperntusche verschmiert waren. »Tu ich auch gar nicht. Was willst du, Dean?«
»Ich hab gehört, dass es letzte Nacht bei Ihnen gebrannt hat. Ich dachte, ich frage mal nach, ob Sie jemanden brauchen können, der für Sie sauber macht.«
Haley kniff die Augen zusammen. »Woher weißt du von dem Feuer?«
Dean schnaubte verächtlich. »Hier in der Straße bleibt nichts lange geheim. Irgendjemand muss es rumerzählt haben. Meine Mutter hat es mir heute Morgen gesagt, bevor sie zu ihrem, ach, so wichtigen Job aus dem Haus gerannt ist.«
Die drei Sätze verrieten Haley zwei Dinge über Dean Brown. Erstens, dass er sehr viel intelligenter war, als er aussah und sein Verhalten nahelegte. Und zweitens, dass er wahrscheinlich nur eines dieser vielen Schlüsselkinder war, die zu viele materielle Dinge besaßen und zu wenig Aufmerksamkeit von ihren Eltern bekamen.
»Hast du denn nichts Besseres zu tun, als meinen Herd zu schrubben oder meinen Rasen zu mähen? Du siehst doch nicht schlecht aus. Hast du keine Freundin?«
»Die Mädchen in der Schule sind blöd. Ich stehe mehr auf ältere Frauen«, sagte er ernsthaft, und seine Ohren wurden rot.
»Du solltest besser nett zu den Mädchen in deiner Schule sein. Irgendwann sind sie nämlich die älteren Frauen. Und danke der Nachfrage, aber ich habe schon selbst geputzt.«
Dean zuckte mit den Schultern, stopfte die Hände in die Hosentaschen und trat einen Schritt zurück. »Bald muss Ihr Rasen noch mal gemäht werden.«
»Dann komm in ein paar Tagen wieder.« Haley sah dem Jungen nach, wie er über die Straße nach Hause ging. Ihr fiel ein, dass er an dem Abend, als Sondra Jackson ermordet wurde, ebenfalls in der Nähe der Schule gewesen war.
Dean mochte ältere Frauen. Sondra war älter gewesen. Genau wie Monica. War es möglich, dass der Junge in beide Frauen verliebt gewesen war? Und dass er sie getötet hatte, als sie seine Gefühle nicht erwiderten?
Gerade als sie die Haustür schließen wollte, sah Haley Angelas Van in die Einfahrt der Marcellis biegen. Sie lief ins Badezimmer und wusch sich die Wimperntusche vom Gesicht. Das Wasser kühlte ihre vom Weinen verquollenen Augen. Danach fühlte sie sich besser.
Als sie schließlich ins Freie trat, hatten Angela und die Kinder den Van schon verlassen. Während Haley die paar Meter zu den Marcellis zurücklegte, sah sie etwas Weißes um deren Hausecke flitzen. Eine Katze, dachte sie. Wenigstens war es keine
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