Nur die Küsse zählen
Aber in der letzten Nacht hatte er sich um sie gekümmert. Er war der Mann gewesen, den sie gebraucht hatte.
Sie hatte sich bisher noch nie auf einen Mann verlassen. Die Erfahrung war neu und gefiel ihr. Trotzdem durfte sie sich nicht daran gewöhnen. Immerhin würde Finn bald abreisen, das hatte er sehr deutlich gemacht.
Sie würde es einfach so lange genießen, wie es ging.
Aurelia wusste, dass sie ein Problem hatte, als drei Tage vergangen waren und ihre Mutter sich immer noch nicht gemeldet hatte. Normalerweise verging kein einziger Tag, an dem sie nicht mindestens zweimal miteinander sprachen. Obwohl sie wusste, dass sie lernen musste, auf eigenen Füßen zu stehen, gab es aus ihrer Sicht keinen Grund, den Kontakt mit dem einzigen Familienmitglied zu verlieren, das sie hatte. Deshalb schaute sie am folgenden Freitag nach der Arbeit bei ihrer Mutter vorbei.
Sie hatte kaum den Finger von der Klingel genommen, da wurde die Tür auch schon geöffnet.
„Hey, Mom.“
„Bist du etwa meinetwegen hier?“ Ihre Mutter tat überrascht.
„Ja. Wir haben ein paar Tage nicht miteinander gesprochen. Ich wollte mal nach dir sehen.“
„Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wieso. Du hast mir ja sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass du dir nichts aus mir machst. Ich könnte auf der Straße tot umfallen, und du würdest einfach über mich hinwegsteigen.“
Aurelia ermahnte sich, ruhig zu bleiben. Sie hatte neue Grenzen gesetzt, die ihrer Mutter nicht passten und die diese nun testete. Aber nur wenn sie sich selbst respektierte, würde ihre Mutter auch irgendwann lernen, sie zu respektieren.
Anstatt also wütend oder frustriert zu sein, lächelte sie. „Du bist so geschickt mit Worten. Du schaffst es immer, die lebhaftesten Bilder hervorzurufen. Ich wünschte, ich hätte dieses Talent von dir geerbt.“ Damit schlüpfte sie an ihrer Mutter vorbei ins Haus.
„Hast du schon einen Tee gemacht?“, fragte sie auf dem Weg in die Küche. Ihre Mutter kochte nach der Arbeit immer Tee, außer sie traf sich mit Freundinnen.
Auf dem Herd stand kein Kessel, offenbar würde ihre Mutter also am Abend ausgehen. Gut. Dann konnte sich das Gespräch nicht stundenlang hinziehen.
Ihre Mutter folgte ihr und blieb mitten in der Küche stehen. Die Arme hatte sie vor der Brust verschränkt, die Lippen fest aufeinandergepresst. „Bist du hergekommen, um dich über meine Armut lustig zu machen?“
Aurelia hob die Augenbrauen. „Da ist es wieder. Mom, hast du jemals daran gedacht, Romane zu schreiben? Du bist so gut darin. Vielleicht auch Kurzgeschichten für Frauenzeitschriften, weißt du?“
„Ich schätze es gar nicht, wenn du dich über mich lustig machst.“
„Das tue ich nicht“, sagte Aurelia sanft. „Ich wollte nach dir sehen und sichergehen, dass alles in Ordnung ist. Es tut mir leid, dass du mich nicht anrufen magst. Ich hoffe, das ändert sich im Laufe der Zeit.“
„Das wird sich ändern, wenn du aufhörst, dich so egoistisch zu benehmen. Bis dahin will ich mit dir nichts zu tun haben.“
Da war er. Der Fehdehandschuh. In der Vergangenheit hatte Aurelia immer nachgegeben. Der Gedanke, von ihrer Mutter im Stich gelassen zu werden, hatte jeden noch so kleinen Anflug von Unabhängigkeit sofort pulverisiert. Aber heute war es anders. Sicher, sie hatte das Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen. Doch das würde vergehen. Sie hatte gemeint, was sie vor ein paar Tagen gesagt hatte. In einem Notfall würde sie sofort helfen, sie war es allerdings leid, als finanzielle und emotionale Stütze benutzt zu werden.
Sie hatte viel Zeit gehabt, um über ihr Handeln nachzudenken. Stephen hatte ihre Wünsche respektiert. Seit dem letzten Gespräch hatte sie kein einziges Mal von ihm gehört. Warum ging ihre Mutter so einfach über ihre Wünsche hinweg, während es Stephen leichtfiel, genau das zu tun, worum sie ihn gebeten hatte? Über dieses Dilemma denke ich ein andermal nach, sagte sie sich.
„Ich hoffe, du hast heute Abend Spaß mit deinen Freundinnen“, sagte sie leise. „Es war schön, dich zu sehen, Mom.“ Sie wandte sich zum Gehen.
Ihre Mutter holte sie im Flur ein. „Du gehst? Einfach so?“
„Du hast gesagt, du willst nichts mehr mit mir zu tun haben, bis ich mich wieder so benehme wie früher. Das kann ich aber nicht. Es tut mir leid, wenn du mich deswegen für egoistisch hältst. Ich glaube nämlich nicht, dass ich das bin.“
„Ich bin deine Mutter. Ich sollte in deinem Leben an erster
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